Page - 43 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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beschwört den Schauer der Regennächte, den Volksaufstand und die
Revolutionen, entfesselt den ganzen Apparat des Grauens und Entsetzens.
Aber doch, jener erhabene Schauer stellt sich nie ein, es wird nur ein Gruseln,
der rein körperliche Reflex des Entsetzens, und nicht der Schauer der Seele.
Jene tiefen Erschütterungen, jene gewitterhaften Wirkungen, die vor Angst
das Herz sehnsüchtig stöhnen lassen nach der Entladung im Blitz, brechen nie
mehr aus seinen Büchern. Dickens türmt Gefahr über Gefahren, aber man
fürchtet sie nicht. Bei Dostojewski starren manchmal plötzlich Abgründe,
man jappt nach Luft, wenn man dieses Dunkel, diesen namenlosen Abgrund
in der eigenen Brust aufgerissen fühlt; man fühlt den Boden unter den Füßen
schwinden, spürt einen jähen Schwindel, einen feurigen, aber süßen
Schwindel, möchte gern nieder, niederstürzen, und schauert doch zugleich vor
diesem Gefühl, wo Lust und Schmerz zu so ungeheuren Hitzegraden
weißgeglüht sind, daß man sie voneinander nicht scheiden kann. Auch bei
Dickens sind solche Abgründe. Er reißt sie auf, füllt sie mit Schwärze, zeigt
ihre ganze Gefahr; aber doch, man schauert nicht, man hat nicht jenen süßen
Schwindel des geistigen Niederstürzens, der vielleicht der höchste Reiz
künstlerischen Genießens ist. Man fühlt sich bei ihm immer irgendwie sicher,
als hielte man ein Geländer, denn man weiß, er läßt einen nicht niederstürzen;
man weiß, der Held wird nicht untergehen; die beiden Engel, die mit weißen
Flügeln durch die Welt dieses englischen Dichters schweben, Mitleid oder
Gerechtigkeit, werden ihn schon unbeschädigt über alle Schründe und
Abgründe tragen. Dickens fehlt die Brutalität, der Mut zur wirklichen Tragik.
Er ist nicht heroisch, sondern sentimental. Tragik ist Wille zum Trotz,
Sentimentalität Sehnsucht nach der Träne. Zu der tränenlosen, wortlosen,
letzten Gewalt des verzweifelten Schmerzes ist Dickens nie gelangt: sanfte
Rührung – etwa der Tod Doras im „Copperfield“ – ist das äußerste ernste
Gefühl, das er vollendet darzustellen vermag. Holt er zum wirklich wuchtigen
Schwung aus, so fällt ihm immer das Mitleid in den Arm. Immer glättet das
(oft ranzige) Öl des Mitleids den heraufbeschworenen Sturm der Elemente;
die sentimentale Tradition des englischen Romans überwindet den Willen
zum Gewaltigen. Denn in England soll das Geschehen eines Romans
eigentlich nur die Illustration der landläufigen moralischen Maximen sein;
durch die Melodie des Schicksals werkelts immer als Unterton: „Üb immer
Treu und Redlichkeit.“ Das Finale muß eine Apokalypse sein, ein
Weltgericht, die Guten steigen nach oben, die Bösen werden bestraft. Auch
Dickens hat leider diese Gerechtigkeit in die meisten Romane übernommen,
seine Schurken ertrinken, ermorden sich gegenseitig, die Hochmütigen und
Reichen machen Bankrott, und die Helden sitzen warm in der Wolle. Noch
heute duldet der Engländer kein Drama, das ihn nicht am Ende mit der
Beruhigung entläßt, alles in dieser Welt sei in schönster Ordnung. Und diese
echt englische Hypertrophie des moralischen Sinnes hat Dickens’
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131