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grandioseste Inspirationen zum tragischen Roman irgendwie ernüchtert. Denn
die Weltanschauung dieser Werke, der eingebaute Kreisel, der ihre Stabilität
aufrechterhält, ist nicht die Gerechtigkeit des freien Künstlers mehr, sondern
die eines anglikanischen Bürgers. Dickens zensuriert die Gefühle, statt sie frei
wirken zu lassen: er gestattet nicht wie Balzac ihr elementares Überschäumen,
sondern lenkt sie durch Dämme und Gruben in Kanäle, wo sie die Mühlen der
bürgerlichen Moral drehen. Der Prediger, der Reverend, der common-sense-
Philosoph, der Schulmeister, alle sitzen sie unsichtbar mit ihm in der
Werkstatt des Künstlers und mengen sich ein: sie verleiten ihn, den ernsten
Roman statt ein demütiges Nachbild der freien Wirklichkeiten lieber ein
Vorbild und eine Warnung für junge Leute sein zu lassen. Freilich, belohnt
ward die gute Gesinnung: als Dickens starb, wußte der Bischof von
Winchester an seinem Werk zu rühmen, man könne es beruhigt jedem Kinde
in die Hände geben; aber gerade dies, daß es das Leben nicht in seinen
Wirklichkeiten zeigt, sondern so, wie man es Kindern darstellen will,
schmälert seine überzeugende Kraft. Für uns Nichtengländer strotzt und
protzt es zu sehr mit Sittlichkeit. Um Held bei Dickens zu werden, muß man
ein Tugendausbund sein, ein puritanisches Ideal. Bei Fielding und Smollet,
die ja doch auch Engländer waren, allerdings Kinder eines sinnefreudigeren
Jahrhunderts, schadet es dem Helden absolut nicht, wenn er einmal bei einem
Raufhandel seinem Gegenüber die Nase eintreibt oder wenn er trotz aller
hitzigen Liebe zu seiner adeligen Dame einmal mit ihrer Zofe im Bette
schläft. Bei Dickens erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge solche
Abscheulichkeiten. Selbst seine ausschweifenden Menschen sind eigentlich
harmlos, ihre Vergnügungen noch immer so, daß sie eine
ältliche spinster ohne Erröten verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller der
Libertin. Wo steckt denn eigentlich seine Libertinage? Mein Gott, er trinkt
vier Glas Ale statt zwei, zahlt seine Rechnungen höchst unregelmäßig,
bummelt ein wenig, das ist alles. Und zum Schluß macht er im rechten
Augenblick eine Erbschaft – eine bescheidene natürlich – und heiratet höchst
anständig das Mädchen, das ihm auf die Bahn der Tugend half. Wahrhaft
unmoralisch sind bei Dickens nicht einmal die Schurken, selbst sie haben
trotz aller böser Instinkte blasses Blut. Diese englische Lüge der
Unsinnlichkeit sitzt als Brand in seinem Werke; die schieläugige Hypokrisie,
die übersieht, was sie nicht sehen will, wendet Dickens den spürenden Blick
von den Wirklichkeiten. Das England der Königin Viktoria hat Dickens
verhindert, den vollendet tragischen Roman zu schreiben, der seine innerste
Sehnsucht war. Und es hätte ihn ganz niedergezogen in seine eigene satte
Mediokrität, hätte ihn ganz mit den klemmenden Armen der Beliebtheit zum
Anwalt seiner sexuellen Verlogenheit gemacht, wäre dem Künstler nicht eine
Welt frei gewesen, in die seine schöpferische Sehnsucht hätte flüchten
können, hätte er nicht jene silberne Schwinge besessen, die ihn stolz über die
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131