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Der Humor Dickens’ hebt sein Werk über die Zeit hinaus in alle Zeiten. Er
erlöst es von der Langeweile alles Englischen, Dickens überwindet die Lüge
durch sein Lächeln. Wie Ariel schwebt dieser Humor geisternd durch die Luft
seiner Bücher, füllt sie an mit heimlicher Musik, reißt sie in einen Tanzwirbel,
eine große Freudigkeit des Lebens. Allgegenwärtig ist er. Selbst aus dem
Schacht der finstersten Verwirrungen funkelt er auf wie ein Bergmannslicht,
er löst die überstraffen Spannungen, er mildert das allzu Sentimentale durch
den Unterton der Ironie, das Übertriebene durch seinen Schatten, das
Groteske, er ist das Versöhnende, das Ausgleichende, das Unvergängliche in
seinem Werk. Er ist – wie alles bei Dickens – natürlich englisch, ein
echtenglischer Humor. Auch ihm fehlt es an Sinnlichkeit, er vergißt sich
nicht, betrinkt sich nicht an seiner eigenen Laune und wird nie ausschweifend.
Er bleibt in seinem Überschwang noch gemessen, grölt nicht und rülpst sich
nicht wie Rabelais, überpurzelt sich nicht wie bei Cervantes vor tollem
Entzücken oder springt kopfüber ins Unmögliche wie der amerikanische. Er
bleibt immer aufrecht und kühl. Dickens lächelt wie alle Engländer nur mit
dem Mund, nicht mit dem ganzen Körper. Seine Heiterkeit verbrennt sich
nicht selbst, sie funkelt nur und zersplittert ihr Licht in die Adern der
Menschen hinein, flackert mit tausend kleinen Flammen, geistert und
irrlichtert neckisch, ein entzückender Schelm, mitten in den Wirklichkeiten.
Auch sein Humor ist – denn es ist das Schicksal Dickens’, immer eine Mitte
darzustellen – ein Ausgleich zwischen der Trunkenheit des Gefühls, der
wilden Laune und der kaltlächelnden Ironie. Sein Humor ist unvergleichbar
dem der anderen großen Engländer. Er hat nichts von der zerfasernden,
beizenden Ironie Sternes, nichts von der breitstapfigen, launigen
Landedelmannsheiterkeit Fieldings; er ätzt nicht wie Thackeray schmerzhaft
in den Menschen hinein, er tut nur wohl und nie weh, spielt wie
Sonnenkringel ihnen lustig um Haupt und Hände. Er will nicht moralisch sein
und nicht satirisch, nicht unter der Narrenkappe irgendeinen feierlichen Ernst
verstecken. Er will überhaupt nicht und nichts. Er ist. Seine Existenz ist
absichtslos und selbstverständlich; der Schalk steckt schon in jener
merkwürdigen Augenstellung Dickens’, verschnörkelt und übertreibt dort die
Gestalten, gibt ihnen jene ergötzlichen Proportionen und komischen
Verrenkungen, die dann das Entzücken von Millionen wurden. Alles tritt in
diesen Kreis von Licht, sie leuchten wie von innen heraus; selbst die Gauner
und Schurken haben ihren Glorienschein von Humor, die ganze Welt scheint
irgendwie lächeln zu müssen, wenn Dickens sie betrachtet. Alles glänzt und
wirbelt, die Sonnensehnsucht eines nebligen Landes scheint für immer erlöst.
Die Sprache schlägt Purzelbäume, die Sätze quirlen ineinander, springen weg,
spielen Verstecken mit ihrem Sinn, werfen sich einer dem anderen Fragen zu,
necken sich, führen sich irre, eine Launigkeit beflügelt sie zum Tanz.
Unerschütterlich ist dieser Humor. Er ist schmackhaft ohne das Salz der
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131