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Sexualität, das ihm ja die englische Küche versagte; er ließ sich nicht
verwirren dadurch, daß hinter dem Dichter der Drucker hetzte; denn selbst im
Fieber, in Not und Ärger konnte Dickens nicht anders als heiter schreiben.
Sein Humor ist unwiderstehlich, er saß fest in diesem herrlich scharfen Auge
und verlosch erst mit seinem Licht. Nichts Irdisches vermochte ihm etwas
anzuhaben, und auch der Zeit wird es kaum gelingen. Denn ich kann mir
Menschen nicht denken, die Novellen wie „Das Heimchen am Herd“ nicht
lieben würden, die der Heiterkeit wehren könnten bei manchen Episoden
dieser Bücher. Die seelischen Bedürfnisse mögen sich wandeln wie die
literarischen. Aber solange man Sehnsucht nach Heiterkeit haben wird, in den
Augenblicken jener Behaglichkeiten, wo der Lebenswille ruht und nur das
Gefühl des Lebens sanft seine Wellen in einem rührt, wo man sich nach nichts
so sehnt als nach irgendeiner arglosen melodischen Erregung des Herzens,
wird man nach diesen einzigen Büchern greifen, in England und überall in der
Welt.
Das ist das Große, das Unvergängliche in diesem irdischen, allzu irdischen
Werke: es hat Sonne in sich, es strahlt und wärmt. Man soll die großen
Kunstwerke nicht allein nach ihrer Intensität fragen, nicht nur nach dem
Menschen, der hinter ihnen stand, sondern auch nach ihrer Extensität, der
Wirkung auf die Mengen. Und von Dickens wird man wie von keinem in
unserem Jahrhundert sagen können, er habe die Freudigkeit der Welt gemehrt.
Millionen Augen haben bei seinen Büchern in Tränen gefunkelt; Tausenden,
denen das Lachen verblüht oder verschüttet war, hat er es neu in die Brust
gepflanzt: weit über das Literarische hinaus ging seine Wirkung. Reiche
Leute besannen sich und machten Stiftungen, als sie von den Brüdern
Chereby lasen; Hartherzige wurden gerührt; die Kinder bekamen – es ist
verbürgt –, als „Oliver Twist“ erschien, mehr Almosen auf den Straßen; die
Regierung verbesserte die Armenhäuser und kontrollierte die Privatschulen.
Das Mitleid und Wohlwollen in England ist stärker geworden durch Dickens,
das Schicksal von vielen und vielen Armen und Unglücklichen gelindert. Ich
weiß: solche außerordentliche Wirkungen haben nichts zu tun mit der
ästhetischen Wertung eines Kunstwerkes. Aber sie sind wichtig, weil sie
zeigen, daß jedes ganz große Werk über die Welt der Phantasie hinaus, wo ja
jeder schaffende Wille zauberhaft frei schweifen kann, auch in der realen Welt
Wandlungen hervorbringt. Wandlungen im Wesentlichen, im Sichtbaren und
dann in der Temperatur des Gefühlsempfindens. Dickens hat – im Gegensatz
zu den Dichtern, die für sich selbst um Mitleid und Zuspruch bitten – die
Heiterkeit und Lust seiner Zeit gemehrt, ihren Blutkreislauf befördert. Die
Welt ist heller geworden seit dem Tage, da der junge Stenograph des
Parlaments zur Feder griff, um von Menschen und Schicksalen zu schreiben.
Er hat seiner Zeit die Freude gerettet und den späteren Generationen den
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131