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Verbrechen zu ahnen, dessen man ihn beschuldigt: Teilnahme an den
Diskussionen einiger aufgeregter Freunde, die man übertrieben die
Petraschewskysche Verschwörung genannt hat, ist sein ganzes Delikt, seine
Verhaftung zweifellos ein Mißverständnis. Dennoch blitzt plötzlich die
Verurteilung nieder zur härtesten Strafe, zum Tode durch Pulver und Blei.
Wieder drängt sich sein Schicksal in eine neue Sekunde, die engste und
reichste seiner Existenz, eine unendliche Sekunde, in der sich Tod und Leben
die Lippen reichen zum brennenden Kuß. Im Morgengrauen wird er mit neun
Gefährten aus dem Gefängnis geholt, ein Sterbehemd ihm umgeworfen, die
Glieder an den Pfahl geschnürt und die Augen verbunden. Er hört sein
Todesurteil lesen und die Trommeln knattern – sein ganzes Schicksal ist
zusammengepreßt in eine Handvoll Erwartung, unendliche Verzweiflung und
unendliche Lebensgier in ein einziges Molekül Zeit. Da hebt der Offizier die
Hand, winkt mit dem weißen Tuche und verliest die Begnadigung, das
Todesurteil in sibirisches Gefängnis verwandelnd.
In einen Abgrund ohne Namen stürzt er jetzt hinab aus seinem ersten
jungen Ruhm. Vier Jahre lang umgrenzen fünfzehnhundert eichene Pfähle
seinen ganzen Horizont. An ihnen zählt er mit Kerben und mit Tränen Tag um
Tag die viermal dreihundertfünfundsechzig Tage ab. Seine Genossen sind
Verbrecher, Diebe und Mörder, seine Arbeit Alabasterschleifen, Ziegeltragen,
Schneeschaufeln. Die Bibel wird das einzig verstattete Buch, ein räudiger
Hund und ein flügellahmer Adler seine einzigen Freunde. Vier Jahre weilt er
im „Totenhaus“, in der Unterwelt, Schatten zwischen Schatten, namenlos und
vergessen. Als sie ihm dann die Kette von den wunden Füßen abschmieden
und die Pfähle hinter ihm liegen, eine braune morsche Mauer, ist er ein
anderer: seine Gesundheit zerstört, sein Ruhm zerstäubt, seine Existenz
vernichtet. Nur seine Lebenslust bleibt unversehrt und unversehrbar: heller als
je flammt aus dem schmelzenden Wachs seines zerkneteten Körpers die heiße
Flamme der Ekstase. Ein paar Jahre noch muß er in Sibirien verbleiben,
halbfrei und ohne die Verstattung, eine Zeile zu veröffentlichen. Dort in der
Verbannung, in bitterster Verzweiflung und Einsamkeit geht er jene seltsame
Ehe mit seiner ersten Frau ein, einer kranken und eigenartigen, die seine
mitleidige Liebe unwillig erwidert. Irgendeine dunkle Tragödie der
Aufopferung ist in diesem seinen Entschluß für immer der Neugier und
Ehrfurcht verborgen, nur aus einigen Andeutungen in den „Erniedrigten und
Beleidigten“ vermag man den schweigsamen Heroismus dieser
phantastischen Opfertat zu ahnen.
Ein Vergessener, kehrt er nach Petersburg zurück. Seine literarischen
Gönner haben ihn fallen gelassen, seine Freunde sich verloren. Aber mutig
und kraftvoll ringt er sich aus der Welle, die ihn niederwarf, wieder ans Licht.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131