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Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
Page - 63 -
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Page - 63 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski

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Wolken vor. Ein junges Mädchen, seine Stenographin, war seine zweite Frau geworden, aber das erste Kind, das sie ihm schenkt, rafft die Entkräftung, die Not des Exils schon nach wenigen Tagen fort. War Sibirien das Purgatorium, der Vorhof seines Leidens, so ist Frankreich, Deutschland, Italien sicherlich seine Hölle. Kaum wagt man sich diese tragische Existenz zu vergegenwärtigen. Aber immer in Dresden, wenn ich durch die Straßen gehe, vorbei an irgendeinem niederen und schmutzigen Haus, so faßt michs an, ob er da nicht irgendwo wohnte, zwischen kleinen sächsischen Krämern und Handlangern, oben im vierten Stock, einsam, unendlich einsam in dieser fremden Geschäftigkeit. Keiner hat ihn gekannt in all diesen Jahren. Eine Stunde weit in Naumburg wohnt Friedrich Nietzsche, der einzige, der ihn verstehen könnte, Richard Wagner, Hebbel, Flaubert, Gottfried Keller, die Zeitgenossen sind da, aber er weiß von ihnen nichts und sie nichts von ihm. Wie ein großes gefährliches Tier, struppig und in abgetragenen Kleidern, schleicht er aus seiner Arbeitshöhle scheu auf die Straße, immer den gleichen Weg, in Dresden, in Genf, in Paris: ins Café, in einen Klub, um nur russische Zeitungen zu lesen. Rußland will er spüren, Heimat, den bloßen Anblick der cyrillischen Lettern, den flüchtigen Atem des heimischen Wortes. Manchmal setzt er sich, nicht aus Liebe zur Kunst (ewig blieb er der byzantinische Barbar, der Bilderstürmer), sondern um sich zu wärmen, in die Galerie. Er weiß nichts von den Menschen, die um ihn sind, er haßt sie nur, weil sie nicht Russen sind, haßt die Deutschen in Deutschland, die Franzosen in Frankreich. Sein Herz horcht nach Rußland, nur sein Körper vegetiert teilnahmslos in dieser fremden Welt. Kein Gespräch, keine Begegnung hat irgendeiner der deutschen, französischen oder italienischen Dichter bezeugt. Nur im Bankhaus kennen sie ihn, wo er bleich tagtäglich an den Schalter kommt und mit vor Erregung zitternder Stimme fragt, ob nicht endlich der Wechsel aus Rußland gekommen sei, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach in Worten vor niedrigen und fremden Menschen in die Knie gestürzt. Schon lachen die Angestellten über den armen Narren und seine ewige Erwartung. Auch im Pfandleihhaus ist er steter Gast: alles hat er dort versetzt, einmal sogar seine letzte Hose, um nur ein Telegramm nach Petersburg senden zu können, einen jener markerschütternden Schreie, wie sie immer wieder gellend in seinem Briefe wiederkehren. Das Herz krampft sich zusammen, liest man die speichelleckerisch, hündisch demütigenden Briefe dieses Gewaltigen, in denen er um zehn erbetener Rubel willen fünfmal den Heiland anruft, diese entsetzlichen Briefe, die keuchen, heulen und winseln für eine erbärmliche Handvoll Geld. Die Nächte hindurch arbeitet er und schreibt, während seine Frau nebenan in den Wehen stöhnt, während die Epilepsie schon die Kralle spannt, ihm das Leben aus der Kehle zu pressen, während die Hausfrau mit der Polizei um ihre Miete droht und die Hebamme um ihre Bezahlung keift – schreibt er „Raskolnikoff“, den „Idioten“, die „Dämonen“, 63
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Drei Meister Balzac - Dickens - Dostojewski
Title
Drei Meister
Subtitle
Balzac - Dickens - Dostojewski
Author
Stefan Zweig
Date
1920
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
134
Keywords
Literatur, Schriftsteller
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
  2. Balzac 7
  3. Dickens 29
  4. Dostojewski 50
  5. Einklang 51
  6. Das Antlitz 54
  7. Die Tragödie seines Lebens 56
  8. Sinn seines Schicksals 66
  9. Die Menschen Dostojewskis 77
  10. Realismus und Phantastik 90
  11. Architektur und Leidenschaft 103
  12. Der Überschreiter der Grenzen 113
  13. Die Gottesqual 121
  14. Vita Triumphatrix 131
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