Page - 75 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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wohl mit Lust erlebt. Damit meine ich aber nicht (Blutfremde mögen es so
verstehen), daß Dostojewski ein Wüstling war, einer, der sich freute am
Fleischlichen, ein Lebemann. Er war nur lustsüchtig, wie er qualsüchtig war,
ein Leibeigener des Triebes, Sklave einer herrischen geistigen und
körperlichen Neugier, die ihn mit Ruten ins Gefährliche hineinpeitschte, ins
Dornendickicht der abseitigen Wege. Seine Lust, auch sie ist nicht banales
Genießen, sondern Spiel und Einsatz der ganzen sinnlichen Lebenskraft, das
immer wieder und wieder Empfindenwollen der geheimnisvollen gewitterigen
Schwüle der Epilepsie, Konzentration des Gefühles in ein paar gespannte
Sekunden gefährlicher Vorlust und dann der dumpfe Niedersturz in die Reue.
Er liebt in der Lust nur das Flimmern von Gefahr, das Spiel der Nerven, dies
Naturhafte innerhalb des eigenen Körpers, er sucht in einer seltsamen
Mischung von Bewußtheit und dumpfer Scham in jeder Lust das Gegenspiel,
den Bodensatz der Reue, in der Schändung die Unschuld, im Verbrechen die
Gefahr. Dostojewskis Sinnlichkeit ist ein Labyrinth, in dem sich alle Wege
verschlingen, Gott und das Tier sind nachbarlich in einem Fleische, und man
verstehe in diesem Sinn das Symbol der Karamasoff, daß Aljoscha, der Engel,
der Heilige gerade der Sohn Fedors, der grausamen „Spinne der Wollust“ ist.
Wollust zeugt die Reinheit, das Verbrechen die Größe, Lust das Leiden und
das Leiden wieder Lust. Ewig berühren sich die Gegensätze: zwischen
Himmel und Hölle, Gott und Teufel spannt sich seine Welt.
Grenzenlose, restlose wissend-wehrlose Hingabe an sein zwiespältiges
Schicksal, amor fati ist darum Dostojewskis letztes und einziges Geheimnis,
der schöpferische Feuerquell seiner Ekstase. Eben weil das Leben ihm so
gewaltig zugemessen war, weil es ihm Unermeßlichkeiten des Gefühles im
Leiden auftat, hat er das grausam-gütige, göttlich-unverständliche, ewig
unerlernbare, ewig mystische Leben geliebt. Denn sein Maß ist die Fülle, die
Unendlichkeit. Nie wollte er seinen Lebensgang milderen Wellenschlags,
einzig sich selbst noch konzentrierter, intensiver, und darum biegt er nie
inneren und äußeren Gefahren aus, sind sie doch Möglichkeiten der
Sensation, Entzündungen des Nervs. Was Keim war in ihm, Keim des Guten
und des Bösen, jede Leidenschaft, jedes Laster hat er aufgesteigert durch
Begeisterung und Selbstekstase, nichts ausgerodet an Gefahr in seinem
wissenden Blut. Restlos gibt sich der Spieler in ihm als Einsatz an das
leidenschaftliche Spiel der Mächte, denn nur im Rollen von Schwarz und Rot,
Tod oder Leben, spürt er taumlig-süß die ganze Wollust seiner Existenz. „Du
hast mich hineingestellt, du wirst mich wieder hinausführen“, ist mit Goethe
seine Antwort an die Natur. „Corriger la fortune“, das Schicksal zu
verbessern, auszubiegen, abzuschwächen, fällt ihm nicht bei. Nie sucht er
Vollendung, Abschluß, Ende in einer Ruhe, nur Steigerung des Lebens im
Leiden, immer höher lizitiert er sein Gefühl zu neuen Spannungen, denn nicht
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131