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Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Page - 80 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski

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Patriarchalischen losgerissen, der neuen noch nicht vertraut, stehen sie in der Mitte, alle an einem Wegkreuz, und die Unsicherheit jedes einzelnen ist die eines ganzen Volkes. Wir Europäer wohnen in unserer alten Tradition wie in einem warmen Haus. Der Russe des neunzehnten Jahrhunderts, der Dostojewski-Zeit, hat hinter sich die Holzhütte der barbarischen Vorzeit verbrannt, aber sein neues Haus noch nicht gebaut. Entwurzelte, Richtungslose sind sie alle. Sie haben die Kraft ihrer Jugend, die Kraft der Barbaren noch in den Fäusten, aber der Instinkt ist verwirrt von der Tausendfalt der Probleme: die Hände voll Stärke, wissen sie nicht, was zuerst anfassen. Und so greifen sie nach allem und haben nie genug. Man fühle hier die Tragik jedes einzelnen Dostojewski-Menschen, jedes einzelnen Zwiespalt und Hemmung aus dem Schicksal des ganzen Volkes. Dieses Rußland um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weiß nicht wohin: nach Westen oder nach Osten, nach Europa oder nach Asien, nach Petersburg, der „künstlichen Stadt“, in die Kultur oder zurück auf das Bauerngut, in die Steppe. Turgenjew stößt sie nach vorne, Tolstoi stößt sie zurück. Alles ist Unruhe. Der Zarismus steht unvermittelt gegenüber einer kommunistischen Anarchie, die Rechtgläubigkeit, die altererbte, springt quer über in einen fanatischen und rasenden Atheismus. Nichts steht fest, nichts hat seinen Wert, sein Maß in dieser Zeit: die Sterne des Glaubens brennen nicht mehr über ihren Häuptern und das Gesetz längst nicht mehr in ihrer Brust. Entwurzelte einer großen Tradition, sind die Dostojewski-Menschen echte Russen, Übergangsmenschen, das Chaos des Anfangs im Herzen, beladen mit Hemmungen und Ungewißheiten. Immer sind sie verschreckt und verschüchtert, immer fühlen sie sich erniedrigt und beleidigt, und dies alles aus dem einzigen Urgefühl der Nation: daß sie nicht wissen, wer sie sind. Daß sie nicht wissen, ob sie viel sind oder wenig. Ewig stehen sie auf der Kippe von Stolz oder Zerknirschung, von Selbstüberschätzung und Selbstverachtung, ewig blicken sie sich um nach den anderen, und alle sind sie verzehrt von der rasenden Angst, lächerlich zu sein. Unablässig schämen sie sich, bald eines abgetragenen Pelzkragens, bald ihrer ganzen Nation, aber immer schämen, schämen sie sich, sind sie beunruhigt, verwirrt. Ihr Gefühl, ihr übermächtiges, hat keinen Halt, keinen Führer, kein einziger hat ein Maß, ein Gesetz, den Halt einer Tradition, die Krücke einer ererbten Weltanschauung. Alle sind sie Maßlose und Ratlose in einer unbekannten Welt. Keine Frage ist für sie beantwortet, kein Weg geebnet. Menschen des Übergangs, Menschen des Anfangs sind sie alle. Jeder ein Cortes: hinter sich verbrannte Brücken, vor sich das Unbekannte. Aber dies ist das Wunderbare: daß, weil sie Menschen eines Anfangs sind, in jedem einzelnen noch einmal die Welt beginnt. Daß alle Fragen, die bei uns schon zu kalten Begriffen erstarrt sind, ihnen noch im Blute glühen. Daß 80
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Drei Meister Balzac - Dickens - Dostojewski
Title
Drei Meister
Subtitle
Balzac - Dickens - Dostojewski
Author
Stefan Zweig
Date
1920
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
134
Keywords
Literatur, Schriftsteller
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
  2. Balzac 7
  3. Dickens 29
  4. Dostojewski 50
  5. Einklang 51
  6. Das Antlitz 54
  7. Die Tragödie seines Lebens 56
  8. Sinn seines Schicksals 66
  9. Die Menschen Dostojewskis 77
  10. Realismus und Phantastik 90
  11. Architektur und Leidenschaft 103
  12. Der Überschreiter der Grenzen 113
  13. Die Gottesqual 121
  14. Vita Triumphatrix 131
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