Page - 86 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Endlich wissen sie, daß sie befruchtet sind von irgendeiner neuen Idee: und
nun suchen sie das Geheimnis zu entdecken. Sie schärfen ihre Gedanken, bis
sie spitz und schneidend werden wie chirurgische Instrumente, sie sezieren
ihren Zustand, sie zerreden ihre Bedrückung in fanatischen Gesprächen, sie
zerdenken ihr Gehirn, bis es sich in Wahnsinn zu entflammen droht, sie
schmieden alle ihre Gedanken in eine einzige fixe Idee, die sie bis ans letzte
Ende denken, in eine gefährliche Spitze, die sich in ihrer Hand gegen sie
selbst wendet. Kirillow, Schatow, Raskolnikoff, Iwan Karamasoff, alle diese
Einsamen haben „ihre“ Idee, die des Nihilismus, die des Altruismus, die des
napoleonischen Weltwahns, und alle haben sie ausgebrütet in dieser
krankhaften Einsamkeit. Sie wollen eine Waffe gegen den neuen Menschen,
der aus ihnen werden soll, denn ihr Stolz will sich gegen ihn wehren, ihn
unterdrücken. Andere wieder suchen dieses geheimnisvolle Keimen, diesen
drängenden gärenden Lebensschmerz mit aufgepeitschten Sinnen zu
überrasen. Um im Bilde zu bleiben: sie suchen die Frucht abzutreiben, wie
Frauen von Treppen springen oder durch Tanz und Gifte sich vom
Unerwünschten zu befreien trachten. Sie toben, um dies leise Quellen in sich
zu übertönen, sie zerstören manchmal sich selbst, nur um diesen Keim zu
zerstören. Sie verlieren sich mit Absicht in diesen Jahren. Sie trinken, sie
spielen, sie werden ausschweifend und all dies (sie wären sonst nicht
Menschen Dostojewskis) fanatisch bis zur letzten Raserei. Schmerz treibt sie
in ihre Laster, nicht eine lässige Begierde. Es ist nicht ein Trinken um
Zufriedenheit und Schlaf, nicht das deutsche Trinken um die Bettschwere,
sondern um den Rausch, um das Vergessen ihres Wahnes, ein Spielen nicht
um Geld, sondern um die Zeit zu ermorden, ein Ausschweifen nicht um der
Lust willen, sondern um in der Übertreibung ihr wahres Maß zu verlieren. Sie
wollen wissen, wer sie sind; darum suchen sie die Grenze. Den äußersten
Rand ihres Ich wollen sie in Überhitzung und Abkaltung kennen und vor
allem die eigene Tiefe. Sie glühen in diesen Lüsten bis zum Gott empor, sie
sinken bis zum Tier hinab, aber immer, um den Menschen in sich zu fixieren.
Oder sie versuchen, da sie sich nicht kennen, sich wenigstens zu beweisen.
Kolja wirft sich unter einen Eisenbahnzug, um sich zu „beweisen“, daß er
mutig ist, Raskolnikoff ermordet die alte Frau, um seine Napoleonstheorie zu
beweisen, sie tun alle mehr, als sie eigentlich wollen, nur um an die äußerste
Grenze des Gefühls zu gelangen. Um ihre eigene Tiefe zu kennen, das Maß
ihrer Menschheit, werfen sie sich in jeden Abgrund hinab: von der
Sinnlichkeit stürzen sie in die Ausschweifung, von der Ausschweifung in die
Grausamkeit und hinab bis zu ihrem untersten Ende, der kalten, der
seelenlosen, der berechneten Bosheit, aber all dies aus einer verwandelten
Liebe, einer Gier nach Erkenntnis des eigenen Wesens, einer verwandelten
Art von religiösem Wahn. Aus weiser Wachheit stürzen sie sich in die Kreisel
des Irrsinns, ihre geistige Neugier wird zur Perversion der Sinne, ihre
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131