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empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski in seiner genialen Analyse
der beiden russischen Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi hören wir, weil wir
sehen, bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören. Seine Menschen sind
Schatten und Lemuren, solange sie nicht sprechen. Erst das Wort ist der
feuchte Tau, der ihre Seele befruchtet: sie tun im Gespräch, wie phantastische
Blüten, ihr Inneres auf, zeigen ihre Farben, die Pollen ihrer Fruchtbarkeit. In
der Diskussion erhitzen sie sich, wachen sie auf aus ihrem Seelenschlaf, und
erst gegen den wachen, gegen den leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es
ja schon, wendet sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt ihnen
das Wort aus der Seele, um dann die Seele selbst zu fassen. Jene dämonische
psychologische Scharfsichtigkeit des Details bei Dostojewski ist im letzten
nichts anderes als eine unerhörte Feinhörigkeit. Die Weltliteratur kennt keine
vollkommeneren plastischen Gebilde als die Aussprüche der Menschen
Dostojewskis. Die Wortstellung ist symbolisch, die Sprachbildung
charakteristisch, nichts zufällig, jede abgebrochene Silbe, jeder
weggesprungene Ton die Notwendigkeit selbst. Jede Pause, jede
Wiederholung, jedes Atemholen, jedes Stottern ist wesentlich, denn immer
hört man unter dem ausgesprochenen Wort das unterdrückte Mitschwingen:
mit dem Gespräch flutet die ganze heimliche Erregung der Seele auf. Man
weiß aus der Rede bei Dostojewski nicht nur, was jeder einzelne Mensch sagt
und sagen will, sondern auch, was er verschweigt. Und dieser geniale
Realismus des seelischen Hörens geht restlos mit in die geheimnisvollsten
Zustände des Wortes, in die sumpfige, stockende Fläche des trunkenen
Irreredens, in die beflügelte, keuchende Ekstase des epileptischen Anfalles, in
das Dickicht der lügnerischen Verworrenheit. Aus dem Dampf der erhitzten
Rede ersteht die Seele, aus der Seele kristallisiert sich allmählich der Körper.
Ohne daß man es selbst weiß, beginnt durch den Dunst des Wortes, durch den
Haschischrauch der Rede bei Dostojewski die Vision des Sprechenden im
körperlichen Bild aufzusteigen. Was die anderen durch fleißiges Mosaik
erzielen, durch die Farbe, Zeichnung und Beschränkung, dieses Bild ballt sich
bei ihm visionär aus dem Wort. Man träumt bei Dostojewski hellseherisch
seine Menschen, sobald man sie sprechen hört. Dostojewski kann es sich
ersparen, sie graphisch zu zeichnen, denn wir selber werden in der Hypnose
ihrer Rede zum Visionär. Ich will ein Beispiel wählen. Im „Idioten“ geht der
alte General, der pathologische Lügner, neben dem Fürsten Myschkin her und
erzählt ihm Erinnerungen. Er beginnt zu lügen, gleitet immer tiefer in seine
Lügen hinein und verstrickt sich gänzlich darin. Er redet, redet, redet. Über
Seiten flutet seine Lüge hin.
Mit keiner Zeile nun schildert Dostojewski seine Haltung, aber aus seinem
Wort, aus seinem Stolpern, seinem Stocken, seiner nervösen Hast spüre ich,
wie er neben Myschkin hergeht, wie er sich verstrickt hat, sehe, wie er
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131