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Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Page - 94 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski

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empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski in seiner genialen Analyse der beiden russischen Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi hören wir, weil wir sehen, bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören. Seine Menschen sind Schatten und Lemuren, solange sie nicht sprechen. Erst das Wort ist der feuchte Tau, der ihre Seele befruchtet: sie tun im Gespräch, wie phantastische Blüten, ihr Inneres auf, zeigen ihre Farben, die Pollen ihrer Fruchtbarkeit. In der Diskussion erhitzen sie sich, wachen sie auf aus ihrem Seelenschlaf, und erst gegen den wachen, gegen den leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es ja schon, wendet sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt ihnen das Wort aus der Seele, um dann die Seele selbst zu fassen. Jene dämonische psychologische Scharfsichtigkeit des Details bei Dostojewski ist im letzten nichts anderes als eine unerhörte Feinhörigkeit. Die Weltliteratur kennt keine vollkommeneren plastischen Gebilde als die Aussprüche der Menschen Dostojewskis. Die Wortstellung ist symbolisch, die Sprachbildung charakteristisch, nichts zufällig, jede abgebrochene Silbe, jeder weggesprungene Ton die Notwendigkeit selbst. Jede Pause, jede Wiederholung, jedes Atemholen, jedes Stottern ist wesentlich, denn immer hört man unter dem ausgesprochenen Wort das unterdrückte Mitschwingen: mit dem Gespräch flutet die ganze heimliche Erregung der Seele auf. Man weiß aus der Rede bei Dostojewski nicht nur, was jeder einzelne Mensch sagt und sagen will, sondern auch, was er verschweigt. Und dieser geniale Realismus des seelischen Hörens geht restlos mit in die geheimnisvollsten Zustände des Wortes, in die sumpfige, stockende Fläche des trunkenen Irreredens, in die beflügelte, keuchende Ekstase des epileptischen Anfalles, in das Dickicht der lügnerischen Verworrenheit. Aus dem Dampf der erhitzten Rede ersteht die Seele, aus der Seele kristallisiert sich allmählich der Körper. Ohne daß man es selbst weiß, beginnt durch den Dunst des Wortes, durch den Haschischrauch der Rede bei Dostojewski die Vision des Sprechenden im körperlichen Bild aufzusteigen. Was die anderen durch fleißiges Mosaik erzielen, durch die Farbe, Zeichnung und Beschränkung, dieses Bild ballt sich bei ihm visionär aus dem Wort. Man träumt bei Dostojewski hellseherisch seine Menschen, sobald man sie sprechen hört. Dostojewski kann es sich ersparen, sie graphisch zu zeichnen, denn wir selber werden in der Hypnose ihrer Rede zum Visionär. Ich will ein Beispiel wählen. Im „Idioten“ geht der alte General, der pathologische Lügner, neben dem Fürsten Myschkin her und erzählt ihm Erinnerungen. Er beginnt zu lügen, gleitet immer tiefer in seine Lügen hinein und verstrickt sich gänzlich darin. Er redet, redet, redet. Über Seiten flutet seine Lüge hin. Mit keiner Zeile nun schildert Dostojewski seine Haltung, aber aus seinem Wort, aus seinem Stolpern, seinem Stocken, seiner nervösen Hast spüre ich, wie er neben Myschkin hergeht, wie er sich verstrickt hat, sehe, wie er 94
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Drei Meister Balzac - Dickens - Dostojewski
Title
Drei Meister
Subtitle
Balzac - Dickens - Dostojewski
Author
Stefan Zweig
Date
1920
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
134
Keywords
Literatur, Schriftsteller
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
  2. Balzac 7
  3. Dickens 29
  4. Dostojewski 50
  5. Einklang 51
  6. Das Antlitz 54
  7. Die Tragödie seines Lebens 56
  8. Sinn seines Schicksals 66
  9. Die Menschen Dostojewskis 77
  10. Realismus und Phantastik 90
  11. Architektur und Leidenschaft 103
  12. Der Überschreiter der Grenzen 113
  13. Die Gottesqual 121
  14. Vita Triumphatrix 131
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