Page - 106 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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dann zuckt eine jener sublimen Sekunden nieder, wo wie ein Blitz die
Erlösung aus dem Himmel seines Werkes in die Tiefe unserer Herzen fährt.
Erst wenn die Spannung unerträglich geworden ist, zerreißt Dostojewski das
epische Geheimnis und löst das zerspannte Gefühl in weiche, flutende,
tränenfeuchte Empfindung.
So feindlich, so wollüstig, so raffiniert leidenschaftlich umstellt, umfaßt
Dostojewski seine Leser. Nicht im Ringkampf zwingt er sie nieder, sondern
wie ein Mörder, der stundenlang und stundenlang sein Opfer umkreist,
durchstößt er einem dann plötzlich mit einer spitzen Sekunde das Herz. So
leidenschaftlich ist er im eigenen Aufruhr, daß man zweifelt, ihn noch einen
Epiker nennen zu dürfen. Seine Technik ist eine explosive: er höhlt nicht
kärrnerhaft, Schaufel um Schaufel, die Straße in sein Werk hinein, sondern
von innen herauf mit einer ins kleinste geballten Kraft sprengt er die Welt auf
und die erlöste Brust. Ganz unterirdisch sind seine Vorbereitungen, gleichsam
eine Verschwörung, eine blitzartige Überraschung für den Leser. Nie weiß
man, obwohl man fühlt, daß man einer Katastrophe entgegengeht, in welchen
Menschen er die Stollen seiner Minengänge eingräbt, von welcher Seite, in
welcher Stunde die furchtbare Entladung erfolgt. Von jedem einzelnen führt
ein Schacht in den Mittelpunkt des Geschehens, jeder einzelne ist geladen mit
dem Zündstoff der Leidenschaft. Wer aber den Kontakt zündet (zum Beispiel,
wer von den vielen, die alle innerlich von den Gedanken vergiftet sind, den
Fedor Karamasoff tötet), das ist mit einer unerhörten Kunst verborgen bis
zum letzten Augenblick, denn Dostojewski, der alles ahnen läßt, verrät nichts
von seinem Geheimnis. Man fühlt nur immer das Schicksal wie einen
Maulwurf unter der Fläche des Lebens wühlen, fühlt, wie sich bis hart unter
unser Herz die Mine vorschiebt, und vergeht, verzehrt sich in unendlicher
Spannung bis zu den kleinen Sekunden, die wie ein Blitz die Schwüle der
Atmosphäre zerschneiden.
Und für diese kleinen Sekunden, für die unerhörte Konzentration des
Zustandes benötigt der Epiker Dostojewski eine bisher ungekannte Wucht
und Breite der Darstellung. Nur eine monumentale Kunst kann solch eine
Intensität, eine solche Konzentration erzielen, nur eine Kunst urweltlicher
Größe und mythischer Wucht. Hier ist Breite nicht Geschwätzigkeit, sondern
Architektur: wie für die Spitzen der Pyramiden riesige Fundamente, sind für
die spitzen Höhepunkte bei Dostojewski die gewaltigen Dimensionen seiner
Romane notwendig. Und wirklich, wie die Wolga, der Dnjepr, die großen
Ströme seiner Heimat, rollen diese Romane dahin. Etwas Stromhaftes ist
ihnen allen zu eigen, langsam wogend rollen sie ungeheuere Mengen des
Lebens heran. Auf ihren Tausenden und Tausenden Seiten schwemmen sie,
gelegentlich die Ufer des künstlerischen Gestaltens übertretend, viel
politisches Geröll und polemisches Gestein mit sich fort. Manchmal, wo die
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131