Page - 108 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Künstler. Aber diese Szenen sind rein künstlerisch ein Triumph der Kunst
über den Menschen ohnegleichen, denn erst rücklesend wird man gewahr, mit
einer wie genialen Berechnung alle Anstiege zu diesem Höhepunkt geführt
sind, mit welch wissender Verteilung hier Menschen und Umstände sich
magisch ergänzen, wie die ungeheure Gleichung, die tausendstellige und
verschränkte, sich plötzlich auflöst in die kleinste Zahl, die letzte, restlose
Einheit des Gefühls: die Ekstase. Das ist das größte künstlerische Geheimnis
Dostojewskis, alle seine Romane zu solchen Spitzen hinaufzubauen, in denen
sich die ganze elektrische Atmosphäre des Gefühls sammelt und die den Blitz
des Schicksals mit unfehlbarer Sicherheit in sich auffangen.
Muß noch besonders auf den Ursprung dieser einzigartigen Kunstform
hingewiesen sein, die vor Dostojewski keiner besessen und vielleicht nie ein
Künstler in gleichem Maße besitzen wird? Muß es noch gesagt sein, daß
dieses Aufzucken der gesamten Lebenskräfte zu einzigen Sekunden nichts
anderes ist, als in Kunst verwandelte, sinnfällige Form seines eigenen Lebens,
seiner dämonischen Krankheit? Nie ist das Leiden eines Künstlers fruchtbarer
gewesen als diese künstlerische Verwandlung der Epilepsie, denn nie hat sich
vor Dostojewski in der Kunst eine ähnliche Konzentration von Lebensfülle in
das engste Maß von Raum und Zeit gebannt. Er, der am Semenowskiplatz
gestanden, die Augen verschnürt, und in zwei Minuten sein ganzes
vergangenes Leben noch einmal durchlebte, der bei jedem epileptischen
Anfall in der Sekunde zwischen dem wankenden Taumel und dem harten
Niedersturz vom Sessel auf den Boden Welten visionär durchirrt, nur er
konnte diese Kunst erreichen, in eine Nußschale von Zeit einen Kosmos von
Geschehnissen einzubetten. Nur er das Unwahrscheinliche solcher explosiver
Sekunden so dämonisch ins Wirkliche zwingen, daß wir dieser Fähigkeit der
Überwindung von Raum und Zeit kaum gewahr werden. Wahre Wunder der
Konzentration sind seine Werke. Ich erinnere nur an ein Beispiel: Man liest
den ersten Band des „Idioten“, der über 500 Seiten umfaßt. Ein Tumult von
Schicksal hat sich erhoben, ein Chaos von Seelen ist durchflogen, eine
Vielzahl von Menschen innerlich belebt. Man hat mit ihnen Straßen
durchwandert, in Häusern gesessen, und plötzlich, bei zufälligem Besinnen,
entdeckt man, daß diese ganze ungeheure Fülle von Geschehnissen in einem
Ablauf von kaum zwölf Stunden vor sich ging, von Morgen bis Mitternacht.
Ebenso ist die phantastische Welt der Karamasoff in bloß ein paar Tage, die
Raskolnikoffs in eine Woche zusammengeballt, – Meisterstücke der
Gedrängtheit, wie sie ein Epiker noch nie und selbst das Leben nur in den
seltensten Augenblicken erreicht. Einzig die antike Tragödie des Ödipus etwa,
der in der engen Spanne von Mittag bis Abend ein ganzes Leben und das
vergangener Generationen zusammendrängt, kennt diesen rasenden
Niedersturz von Höhe zu Tiefe, von Tiefe zu Höhe, diese erbarmungslosen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131