Page - 111 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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war äußeres Schicksal und nicht innere Leichtfertigkeit bei ihm ebenso wie
bei Balzac, daß er getrieben war vom Leben zur Eiligkeit und zu sehr gehetzt,
um die Werke vollendet zu gestalten. Man vergesse nicht, wie diese Werke
entstanden sind. Immer war schon der ganze Roman verkauft, während
Dostojewski noch das erste Kapitel schrieb, jede Arbeit eine Hetzjagd von
Vorschuß zu neuem Vorschuß. „Wie ein alter Postgaul“ arbeitend, auf der
Flucht durch die Welt, fehlt es ihm manchmal an Zeit und Ruhe, die letzte
Feile anzulegen, und er weiß es selbst, der Wissendste aller, und empfindet es
wie Schuld! „Mögen sie doch sehen, in welchem Zustande ich arbeite. Sie
verlangen von mir schlackenlose Meisterwerke, und aus bitterster, elendster
Not bin ich zur Eile gezwungen“, schreit er erbittert auf. Er flucht Tolstoi und
Turgenjew, die, gemächlich auf ihren Gütern sitzend, die Zeilen runden und
ordnen können, und denen er um nichts sonst neidisch ist. Keine Armut
scheut er persönlich, aber der Künstler, erniedrigt zum Proletarier der Arbeit,
schäumt gegen die „Gutsherrnliteratur“ aus der unbändigen Sehnsucht des
Artisten, einmal in Ruhe, einmal in Vollendung gestalten zu können. Jeden
Fehler in seinen Werken kennt er, er weiß, daß nach seinen epileptischen
Anfällen die Spannung nachläßt, die straffe Hülle des Kunstwerks gleichsam
undicht wird und Gleichgültiges einströmen läßt. Oft müssen ihn Freunde
oder seine Frau auf grobe Vergeßlichkeiten aufmerksam machen, die er in
jener Verdunklung der Sinne nach dem Anfall begeht, wenn er die
Manuskripte liest. Dieser Proletarier, dieser Taglöhner der Arbeit, dieser
Sklave des Vorschusses, der in der Zeit seiner ärgsten Not drei gigantische
Romane hintereinander schreibt, ist innerlich der bewußteste Artist. Er liebt
fanatisch die Goldschmiedearbeit, den Filigran der Vollendung. Noch unter
der Peitsche der Not feilt und bosselt er stundenlang an einzelnen Seiten,
zweimal vernichtet er den „Idioten“, obzwar seine Frau hungert und die
Hebamme noch nicht bezahlt ist. Unendlich ist sein Wille zur Vollendung,
aber auch die Not ist unendlich. Wieder ringen die beiden gewaltigsten
Mächte um seine Seele, der äußere Zwang und der innere. Auch als Künstler
bleibt er der große Zerspaltene der Zweiheit. Wie der Mensch in ihm ewig
nach Harmonie und Ruhe, so dürstet der Künstler in ihm ewig nach
Vollendung. Hier wie dort hängt er mit zerrissenen Armen am Kreuze seines
Schicksals.
Auch die Kunst also, auch sie, die Einzig-Eine, ist nicht Erlösung dem
Gekreuzigten des Zwiespalts, auch sie Qual, Unruhe, Hast und Flucht, auch
sie nicht Heimat dem Heimatlosen. Und die Leidenschaft, die ihn in die
Gestaltung treibt, sie jagt ihn über die Vollendung hinaus. Auch hier wird er
über die Vollendung gehetzt dem ewig Endlosen zu; mit ihren abgebrochenen
Türmen, den nicht zu Ende gebauten (denn die Karamasoff ebenso wie der
Raskolnikoff versprechen beide einen zweiten, nie geschriebenen Teil), ragen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131