Page - 127 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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wollen, sondern im Gegenteil letzteres nur in der freiesten und selbständigsten
Entwicklung aller Nationen und in der brüderlichen Vereinigung suchen.“
Lenin und Trotzky sind in dieser Verheißung, gleichzeitig aber auch der
Krieg, den er, der ewige Anwalt des Anspannens aller Gegensätze, so
leidenschaftlich gepriesen. Allversöhnung als Ziel, aber Rußland als der
einzige Weg – „von Osten her wird die Erde erschaffen“. Über die Berge des
Ural wird das ewige Licht aufsteigen und das schlichte Volk, nicht der
wissende Geist, nicht die europäische Kultur, mit seinen dunklen
Geheimnissen der Erde verbundenen Kräften unsere Welt erlösen. Statt der
Macht wird die werktätige Liebe sein, statt des Widerstreits der
Persönlichkeiten das allmenschliche Gefühl, der neue, der russische Christus
wird die Allversöhnung bringen, die Auflösung der Gegensätze. Und der
Tiger wird neben dem Lamme weiden und der Rehbock neben dem Löwen –
wie zittert Dostojewskis Stimme, wenn er vom Dritten Reich spricht, vom
Allrußland der Erde, wie bebt er selbst in der Ekstase der Gläubigkeit, wie
wunderbar ist er, der Wissendste aller Wirklichkeiten, in seinem
messianischen Traum.
Denn in das Wort Rußland, in die Idee Rußland hinein träumt Dostojewski
diesen Christustraum, die Idee der Versöhnung der Gegensätze, die er in
seinem Leben, in der Kunst und selbst in Gott durch sechzig Jahre vergeblich
gesucht. Aber dieses Rußland, welches ist es, das reale oder das mystische,
das politische oder das prophetische? Wie immer bei Dostojewski: beides
zugleich. Vergeblich, von einem Leidenschaftlichen Logik zu verlangen und
von einemDogma seine Begründung. In den messianischen Schriften
Dostojewskis, den politischen, den literarischen Werken, taumeln die Begriffe
wie rasend durcheinander. Bald ist Rußland Christus, bald Gott, bald das
Reich Peters des Großen, bald das neue Rom, die Vereinigung des Geistes
und der Macht, Tiara und Kaiserkrone, seine Hauptstadt bald Moskau, bald
Konstantinopel, bald das neue Jerusalem. Die demütigsten allmenschlichsten
Ideale wechseln brüsk mit machtgierigen slawophilen Eroberungsgelüsten,
politische Horoskope von verblüffender Treffsicherheit mit phantastischen
apokalyptischen Verheißungen. Bald jagt er den Begriff Rußland in die Enge
der politischen Stunde, bald schnellt er ihn in das Grenzenlose empor – auch
hier wie im Kunstwerk die gleiche zischende Mischung von Wasser und
Feuer, von Realismus und Phantastik offenbarend. Der Dämonische in ihm,
der rasende Übertreiber, in ein Maß gezwungen sonst in seinen Romanen, hier
lebt er sich aus in pythischen Krämpfen: mit der ganzen Inbrunst seiner
glühenden Leidenschaft predigt er Rußland als das Heil der Welt, die
alleinmachende Seligkeit. Nie ward eine Nationalidee hochmütiger, genialer,
werbender, verführender, berauschender, ekstatischer Europa als Weltidee
verkündet, wie die russische in den Büchern Dostojewskis.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131