Page - 133 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Und selbst der „Mensch aus der Winkelgasse“, der kleine verschüchterte
Namenlose in seinem verschabten Mäntelchen, drängt heran und entbreitet
die Arme: „Das Leben ist Schönheit, nur im Leiden ist Sinn, o wie schön ist
das Leben!“ Der „lächerliche Mensch“ bricht auf aus seinem Traum, „das
Leben, das große, zu verkünden“, alle, alle kriechen sie wie Gewürm aus den
Winkeln ihres Wesens, um mitzusprechen im großen Choral. Keiner will
sterben, keiner das Leben lassen, das heilig geliebte, keines Leiden ist so tief,
daß er es mit dem Tode noch tauschte, dem ewigen Widerpart. Und diese
Hölle, Dunkelheit der Verzweiflung, hallt plötzlich an ihren harten Wänden
Lobgesang des Schicksals wider, aus Fegefeuern entbrennt fanatische Glut
der Dankbarkeit. Licht, unendliches Licht strömt ein, der Himmel
Dostojewskis bricht über die Erde, und rauschend über alle dröhnt das letzte
Wort, das Dostojewski schrieb, das Wort der Kinder bei der Rede am großen
Stein, der heilig barbarische Ruf: „Hurra das Leben!“
O Leben, wunderbares, das du dir mit wissendem Willen Märtyrer schaffst,
auf daß sie dich lobsingen, o Leben, weise-grausames, das du die Größten dir
hörig machst mit Leiden, damit sie deinen Triumph verkünden! Den ewigen
Schrei Hiobs, der durch die Jahrtausende tönt, da er in der Plage Gott erkennt,
immer willst du ihn wieder hören und der Männer Daniels Jubelgesang, indes
ihr Leib im feurigen Ofen brennt. Ewig entzündest du ihn, klingende Kohle,
auf der Zunge der Dichter, die du zu Leidenden machst, auf daß sie dir hörig
werden und dich nennen in Liebe! Beethoven schlägst du im Sinne der Musik,
daß der Ertaubte das Brausen Gottes höre und, vom Tode berührt, dir die
Hymne der Freude dichte, Rembrandt jagst du ins Dunkel der Armut, daß er
Licht, dein Urlicht, in Farben sich suche, Dante verjagst du vom Vaterland,
daß er Hölle und Himmel im Traum erschaue, alle hast du mit deinen Geißeln
gejagt in deine Unendlichkeit. Und diesen, den du wie keinen gegeißelt, auch
ihn hast du dir gezwungen zum Knechte, und siehe, von schäumender Lippe,
hinfallend in Krämpfen jauchzt er dir Hosianna zu, das heilige Hosianna, das
„durch alle Fegefeuer der Zweifel gegangen“. O wie siegst du in den
Menschen, die du leiden läßt, aus Nacht machst du Tag, aus Leiden die Liebe,
aus der Hölle holst du dir heiligen Lobgesang. Denn der Leidendste ist der
Wissendste aller, und wer um dich weiß, muß dich segnen: und dieser, der
dich zutiefst erkannte, siehe, er hat dich wie keiner bezeugt, er hat dich wie
keiner geliebt!
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131