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Die Liebe der Erika Ewald
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Aber dann stürzte sie gierig auf das Bild zu, als wollte sie dieses liebe lächelnde rosige Kind aus dem Rahmen reißen, wieder zurück ins Leben, um es zu wiegen und zu umschmeicheln, um die Zartheit seiner unbeholfenen Glieder zu spüren und das Lachen um diesen kleinen törichten Mund zu erwecken. Sie dachte nicht, daß dies nur ein Bild war, ein Stück bemalter Wand, das nur der Traum des Lebens war, sie überlegte nicht, sondern fühlte nur, und ihre Blicke flatterten in seligem Rausche. Reglos blieb sie knapp vor dem Bilde stehen. Ein Zittern und Reißen war in ihren Fingern, die sich sehnten, die blühende Weiche dieses Kindes wieder erschauernd fühlen zu können, ein Brennen in ihren Lippen, den erträumten Körper mit zärtlichen Küssen bedecken zu können. Ein seliges Fieber durchlief ihren Leib. Und dann brachen die warmen Tränen empor. Aber sie waren nicht mehr zornig und anklagend, sondern wehmütig und beglückt, sie waren nur ein Quellen und Überquellen von vielen seltsamen Gefühlen, die plötzlich ihre Seele erfüllten und empordrängten. Leise löste sich der Krampf, der sie mit seinen harten Händen umklammert, und eine unsichere, aber milde und versöhnliche Stimmung hielt sie umschlungen und wiegte sie sanft und süß in einen wachen, wunderbaren Traum, der ferne war von allen Wirklichkeiten. Der alte Mann fühlte wieder jenes fragende Bangen in seiner Freude. Wie wundersam war dieses Werk, daß es selbst diejenigen, die es geschaffen und gelebt, so mystisch beseelte, wie unirdisch war diese sanfte Erhebung, die ihm entstrahlte! War dies nicht wie die Bilder und Zeichen der Heiligen, die man verehrte, und bei denen die Beladenen und Bedrückten jählings ihren Schmerz vergaßen und heimgingen, von einem Wunder geläutert und befreit? Und waren dies nicht heilige Flammen in den Blicken dieses Mädchens, das ihr eigenes Bild besah, ohne Neugierde und ohne Scham, sondern hingegeben und gottverloren? Er fühlte, es müsse ein Ziel geben, zu dem so sonderbare Wege führten, es müsse ein Wille da walten, der nicht blind sei, wie der seine, sondern hellsichtig und aller seiner Wünsche Meister. Und wie fromme Glocken jubelten diese Gedanken durch sein Herz, das sich erwählt dünkte für aller Himmel leuchtende Gnade. Vorsichtig nahm er Esther bei der Hand und führte sie weg vom Bilde. Er sprach nicht, denn auch er fühlte das warme Quellen von Tränen, die er nicht zeigen wollte. Ihm war, als ruhte auf ihrem Haupte noch ein warmer fließender Glanz, wie im Madonnenbilde, und als sei in dem Zimmer bei ihnen noch etwas Großes und Unsagbares, das mit unsichtbaren Schwingen vorüberrauschte. Er sah in Esthers Augen. Sie waren nicht mehr verweint und trotzig; nur ein sanfter spiegelnder Flor schien sie noch zu überschatten. Alles schien ihm heller, milder und verklärter ringsum. Wundernähe und Heiligkeit wollte sich ihm in allen Dingen offenbaren. 102
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Die Liebe der Erika Ewald
Title
Die Liebe der Erika Ewald
Author
Stefan Zweig
Date
1904
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
114
Keywords
Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Die Liebe der Erika Ewald 5
  2. Der Stern über dem Walde 46
  3. Die Wanderung 56
  4. Die Wunder des Lebens 61
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