Seite - 102 - in Die Liebe der Erika Ewald
Bild der Seite - 102 -
Text der Seite - 102 -
Aber dann stürzte sie gierig auf das Bild zu, als wollte sie dieses liebe
lächelnde rosige Kind aus dem Rahmen reißen, wieder zurück ins Leben, um
es zu wiegen und zu umschmeicheln, um die Zartheit seiner unbeholfenen
Glieder zu spüren und das Lachen um diesen kleinen törichten Mund zu
erwecken. Sie dachte nicht, daß dies nur ein Bild war, ein Stück bemalter
Wand, das nur der Traum des Lebens war, sie überlegte nicht, sondern fühlte
nur, und ihre Blicke flatterten in seligem Rausche. Reglos blieb sie knapp vor
dem Bilde stehen. Ein Zittern und Reißen war in ihren Fingern, die sich
sehnten, die blühende Weiche dieses Kindes wieder erschauernd fühlen zu
können, ein Brennen in ihren Lippen, den erträumten Körper mit zärtlichen
Küssen bedecken zu können. Ein seliges Fieber durchlief ihren Leib. Und
dann brachen die warmen Tränen empor. Aber sie waren nicht mehr zornig
und anklagend, sondern wehmütig und beglückt, sie waren nur ein Quellen
und Überquellen von vielen seltsamen Gefühlen, die plötzlich ihre Seele
erfüllten und empordrängten. Leise löste sich der Krampf, der sie mit seinen
harten Händen umklammert, und eine unsichere, aber milde und versöhnliche
Stimmung hielt sie umschlungen und wiegte sie sanft und süß in einen
wachen, wunderbaren Traum, der ferne war von allen Wirklichkeiten.
Der alte Mann fühlte wieder jenes fragende Bangen in seiner Freude. Wie
wundersam war dieses Werk, daß es selbst diejenigen, die es geschaffen und
gelebt, so mystisch beseelte, wie unirdisch war diese sanfte Erhebung, die
ihm entstrahlte! War dies nicht wie die Bilder und Zeichen der Heiligen, die
man verehrte, und bei denen die Beladenen und Bedrückten jählings ihren
Schmerz vergaßen und heimgingen, von einem Wunder geläutert und befreit?
Und waren dies nicht heilige Flammen in den Blicken dieses Mädchens, das
ihr eigenes Bild besah, ohne Neugierde und ohne Scham, sondern hingegeben
und gottverloren? Er fühlte, es müsse ein Ziel geben, zu dem so sonderbare
Wege führten, es müsse ein Wille da walten, der nicht blind sei, wie der seine,
sondern hellsichtig und aller seiner Wünsche Meister. Und wie fromme
Glocken jubelten diese Gedanken durch sein Herz, das sich erwählt dünkte
für aller Himmel leuchtende Gnade.
Vorsichtig nahm er Esther bei der Hand und führte sie weg vom Bilde. Er
sprach nicht, denn auch er fühlte das warme Quellen von Tränen, die er nicht
zeigen wollte. Ihm war, als ruhte auf ihrem Haupte noch ein warmer
fließender Glanz, wie im Madonnenbilde, und als sei in dem Zimmer bei
ihnen noch etwas Großes und Unsagbares, das mit unsichtbaren
Schwingen vorüberrauschte. Er sah in Esthers Augen. Sie waren nicht mehr
verweint und trotzig; nur ein sanfter spiegelnder Flor schien sie noch zu
überschatten. Alles schien ihm heller, milder und verklärter ringsum.
Wundernähe und Heiligkeit wollte sich ihm in allen Dingen offenbaren.
102
zurück zum
Buch Die Liebe der Erika Ewald"
Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik