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»Volksstamm«
Kremsierer Entwurf
Verfassungen Kärntens
Verfassungen Österreichs
sog. Kremsierer Verfassungsentwurfes. Darin heißt es :
»Alle Volksstämme des Reiches sind gleichberechtigt.
Jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf
Wohnung (sic !) und Pflege seiner Nationalität über-
haupt und seiner Sprache insbesondere. [Abs. 2 :] Die
Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in
Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate
gewährleistet.« Unterschieden wird nicht zwischen ei-
nem Mehrheitsvolk und ethnischen → Minderheiten,
sondern mit dem Begriff V. wird die Gleichberechti-
gung aller konstitutiven Völker statuiert.
Verwendet wird im Kremsierer Entwurf parallel der
Begriff Nationalität, wonach in § 3 die Abgrenzung
der Kreise »mit möglichster Rücksicht auf Nationalität
durch ein Reichsgesetz festgestellt [wird]« (sic !). Dieser
Begriff findet sich erneut in § 112 Abs. 3 im Zusam-
menhang mit der → Wahlkreiseinteilung, während in
§ 112 Abs. 4 bestimmt wird, dass die Verhandlungen
in den Landtagen »unter Anerkennung der Gleich-
berechtigung der → Landessprachen« öffentlich sind.
Schließlich bezieht sich § 126 Abs. a) auf das Volks-
unterrichts- und Erziehungswesen, wo im Kompe-
tenzbereich der Kreise im Hinblick auf die »Unter-
richtssprache« und die »Sprachgegenstände« diese »mit
gleicher Beachtung der Sprachen des Kreises« stattzu-
finden haben (→ Schulwesen). Das jüngere Konzept
der → Minderheit kommt in diesem Verfassungsent-
wurf so noch nicht zum Tragen.
Den Begriff des V. verwendet auch die → Oktro-
yierte Märzverfassung vom 4. März 1849. § 5 statu-
ierte : »Alle Volksstämme sind gleichberechtigt, und
jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf
Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Spra-
che.« V. im Sinne von Volk findet sich auch in § 4 des
Grundrechtspatentes über die politischen Rechte vom
4. März 1849, einem Begleitgesetz zur Märzverfassung
(RGBl. 151/1849) : »Für allgemeine Volksbildung soll
durch öffentliche Anstalten, und zwar in den Landes-
teilen, in denen eine gemischte Bevölkerung wohnt,
derart gesorgt werden, daß auch die Volksstämme,
welche die Minderheit ausmachen, die erforderlichen
Mittel zur Pflege ihrer Sprache und zur Ausbildung in
derselben erhalten.« Der Begriff V. bezieht sich hier auf
alle Bevölkerungsteile in mehrsprachigen Landesteilen,
→ Minderheit hingegen auf ethnische Volksgruppen,
die eine zahlenmäßige Minorität ausmachen.
Dieselbe Bedeutung findet sich in § 3 der → Lan-
desverfassung für das Herzogtum Kärnten/Koroška
vom 30. Dezember 1849. Darin heißt es : »Die im Lande wohnenden Volksstämme sind gleichberechti-
get, und haben ein unverletzliches Recht auf Wahrung
und Pflege seiner [sic !] Nationalität und Sprache.«
(bzw. authentische slowenische Fassung :) »U deželi
prebivajoči narodi [sic !] imajo jednako pravo in uživajo
nedotakljivo pravico za ohranjanje in oskerbovanje svoje
narodnosti in svojega jezika.« Während also die deutsche
Fassung von »Volksstämmen« spricht, wird in der slo-
wenischen authentischen Fassung der Begriff »narodi«
[Völker] verwendet (Bestimmungen gleichen Inhalts
finden sich auch in den zeitgleichen Landesverfassun-
gen der Steiermark/Štajerksa, von → Krain/Kranjska,
Görz, Gradisca und Istrien/Gorica, Gorica, Gradiška
in Istra – nicht jedoch für → Trieste/Trst/Triest, wo
dieser Aspekt überhaupt nicht berücksichtigt wird).
Der Begriff V. der Kärntner Landesverfassung kann
hier also nicht mit Minderheit »übersetzt« werden. Die
Verfassung definiert zwei gleichberechtigte konstitutive
Völker.
Der Legalbegriff V. findet sich wieder in der → De-
zemberverfassung von 1867 bzw. in Art. 19 des
Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 ȟber
die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im
Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder«, der
besagt : »Alle Volksstämme des Staates sind gleichbe-
rechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches
Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und
Sprache./Die Gleichberechtigung aller landesüblichen
Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird
vom Staate anerkannt./In den Ländern, in welchen
mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentli-
chen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, dass
ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer
zweiten → Landessprache jeder der Volksstämme die
erforderlichen Mittel zur Ausbildung seiner Sprache
erhält.« Der Rechtsbegriff des V. ist der gleiche wie in
den obgenannten Verfassungen.
In Art. 66 bis 69 des → Vertrags von Saint-Germain
vom 10. Dezember 1919 und in Art. 6 Bundes-Verfas-
sungsgesetz (B-VG) in der Fassung von 1929 wird der
Begriff des V. im Sinne eines gleichberechtigten kons-
titutiven Volkes nicht mehr verwendet, es findet in die-
sem Kontext eine sprachliche Schwerpunktverlagerung
auf den Aspekt der sprachlichen → Minderheit statt.
Der Begriff V. wird damit rechtlich obsolet und sprach-
lich veraltet. Die Verwendung des Begriffes »Stamm«
für Ethnos ist nunmehr in diesem Kontext pejorativ
und politisch nicht mehr akzeptabel.
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Volume 3 : PO - Ž
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Subtitle
- Von den Anfängen bis 1942
- Volume
- 3 : PO - Ž
- Authors
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Size
- 24.0 x 28.0 cm
- Pages
- 566
- Categories
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Lemmata Band 3 Po–Ž 1049
- Verzeichnis aller AutorInnen/BeiträgerInnen und ihrer jeweiligen Lemmata 1571
- Verzeichnis aller ÜbersetzerInnen und die von ihnen übersetzten Lemmata 1577
- Verzeichnis der BeiträgerInnen von Bildmaterial 1579
- Verzeichnis der Abbildungen 1580
- Synopsis (deutsch/English/slovensko) 1599
- Biographien der Herausgeber 1602