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50 Johannes Holeschofsky
nie gewesen. Trotz der unterschiedlichen Intensität des politischen Engagements beider
Historiker liegt es hier vielmehr nahe, Redlichs Haltung mit der seines von ihm hochge-
schätzten Kollegen Heinrich Friedjung zu vergleichen. Friedjung hatte – bei aller deutsch-
national motivierten Kritik an der Dynastie und dem klassischen Deutschliberalismus in
Österreich – bereits in den 1870er Jahren eine Position eingenommen, der viele seiner
deutschnationalen Parteigenossen eine zu große Reserve gegenüber dem wilhelminischen
Deutschland vorwarfen. Diese Reserve gemahnte, wie der Friedjung’sche „Gesamtstaats-
gedanke“, wiederum ein wenig an die Positionen von Anton von Schmerling in den frü-
hen 1860er Jahren. Sehr früh hatte sich der Politiker und Historiker, ganz im Sinne des
Linzer Programms, gegen eine offene Verfolgung von Anschlusspropaganda und gegen
offene Irredenta gegen die Monarchie entschieden. Als Nahziel sollte die Forderung nach
einem engen politischen Zusammenschluss der beiden mitteleuropäischen Monarchien
genügen, ohne am ersehnten Fernziel des Anschlusses zu rütteln92. Dieses Bekenntnis
Friedjungs zur Habsburgermonarchie war also, im Geiste Johann Gottlieb Fichtes, ur-
sprünglich taktisch motiviert, konnte aber wiederum von vielen aus dem nationalen Lager
als eine Vertagung der Sehnsüchte auf den „St. Nimmerleinstag“ beargwöhnt werden.
Anders als viele andere Deutschnationale hielt Friedjung bis 1918 an seiner Ablehnung of-
fener Irredenta fest93. Während des Ersten Weltkrieges schwang sich Friedjung schließlich
zu einem der maßgeblichen Propagandisten von Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Ge-
danken auf. Wie Friedjung konnte sich auch Redlich den Fortbestand der Donaumonar-
chie nur in engstem politischen Zusammenschluss mit dem wilhelminischen Deutschland
vorstellen.94
6.2 Säkularjahre
In ausgeprägtem Kontrast zu diesem Bekenntnis Redlichs zu einer großösterreichischen
„Staatsnation“ aus dem Jahr 1915 steht der Essay über die Säkularjahre Österreichs aus
dem Jahr 1921. Er ist wohl nur unter dem Einfluss der Ideengeschichte im Sinne von
Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“ zu verstehen. Im Unterschied zu Leopold
von Ranke konnten für Redlich große Ideen wie die Idee des Staates nur bestehen, wenn
sie sich mit den großen demokratischen Bewegungen ihrer Zeit verbanden95. Wie Meine-
cke Preußen und Hohenzollern, überprüfte Redlich nun nicht nur die Dynastie, sondern
92 Erich Zailer, Heinrich Friedjung. Unter besonderer Berücksichtigung seiner politischen Entwicklung (un-
gedr. phil. Diss., Wien 1949) 25f.
93 Ebd. 118f.
94 Redlich, Bestimmung (wie Anm. 86) 23f.
95 Oswald Redlich, Säkularjahre der Geschichte Österreichs, in : Ders. Ausgewählte Schriften (Zürich 1928)
39–53, hier 41f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625