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52 Johannes Holeschofsky
dass dieser die kleindeutsche Lösung im Sybel’schen Sinne bevorzuge103. Sickels politisches
Programm für Österreich sei dagegen schon früh einheitlich und konsequent gewesen104 :
Aufgabe der deutschen Rolle Österreichs im engeren Sinn, Gesamtstaatsdenken, Bündnis
als Juniorpartner mit einem von Preußen geführten Deutschland. Freilich habe Sickel ge-
hofft, diese Ziele würden unblutig, durch eine Einsicht der österreichischen Staatsmänner
in die Unausweichlichkeit der preußisch-kleindeutschen Lösung, herbeigeführt105.
In dem ihm fälschlicherweise nachgesagten Desinteresse an Politik wie auch in einer
gewissen Distanz gegenüber zeitgenössischen politischen Strömungen in Österreich wird
eine erstaunliche Parallele zwischen dem Wahlösterreicher und Kleindeutschen Sickel
und dem geborenen Österreicher und Großdeutschen Oswald Redlich sichtbar. Bei der
Haltung zur Frage der Beziehung Österreichs zu Deutschland kann es aber keinen größe-
ren Gegensatz geben als zwischen Sickels klarem Standpunkt und Redlichs Unsicherheit :
Dieser war – was seine politische Gesinnung und seine Weltanschauung anbelangt – ein
Historiker nicht über, sondern zwischen den Parteien. Er blieb ein Zerrissener.
7. sozialgeschichte : von der „historischen landeskunde“
zur „volksgeschichte“ ?
7.1 Die grundsätzliche Haltung : Auf der Suche nach einer „mittleren Linie“ zwischen
Politikgeschichte, Biografie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte
In einer 1924 erschienenen Rede anerkannte Redlich die gestiegene Bedeutung der Sozial-
geschichte und Wirtschaftsgeschichte106. Wirtschaftliche und soziale Beziehungen würden
die politische Geschichte massiv beeinflussen, ihrerseits aber auch von den naturräumli-
chen Beziehungen abhängen. Von dieser würden wieder gewisse „Pfade“ zu einer Anthro-
pologie und zur Urgeschichte führen107. Hier würdigte Redlich vor allem die Bedeutung
der naturwissenschaftlichen Methodik Theodor von Sickels, die die österreichischen His-
toriker befähigt habe, in all diesen modernen Gebieten federführend tätig zu sein, und hob
den von ihm selbst initiierten Brückenschlag zur „landschaftlichen Diplomatik“ durch die
Anwendung von Sickels Methode auf „Privaturkunden“ hervor. Diesen Brücken schlag
hatte Sickel selbst ironischerweise keineswegs mit Wohlwollen verfolgt108. Alle diese Me-
103 Ebd. 170.
104 Ebd. 169.
105 Ebd.
106 Oswald Redlich, Landeskunde und Geschichtswissenschaft, in : Ders., Ausgewählte Schriften (wie Anm.
94) 73–85 ‚ hier 76f.
107 Ebd.
108 Redlich, Landeskunde (wie Anm. 105) 80f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625