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416 Anne-Katrin Kunde und Julia Richter
pirenneschen Thesen und unter explizitem Einbezug von Erkenntnissen der Islamfor-
schung63 die Bedeutung der Nordgermanen für die Wirtschaftsentwicklung des frühen
Mittelalters, weist mithin die Thesen ihres „hervorragenden“ und „verdienten“ belgischen
Kollegen zurück und vertritt zugleich die Auffassung, dass in dieser Zeit keine Geschlossen-
heit der Wirtschaft im Mittelmeerbecken […] vorhanden war und die Zersetzung derselben
nicht erst in der Völkerwanderungszeit erfolgte64 : „Dem Islam als letzter Vollendung einer
als Gegenwirkung gegen den griechischen Geist und die römische Weltherrschaft schon
in der Kaiserzeit einsetzenden Reaktionsbewegung des Orients, der Orientalisierung der
östlichen Kultur, steht gegenüber die große Kulturtat der Germanen, kraft tausendjäh-
riger heimischer Traditionen die Kultur des Christentums aus der Umklammerung des
Orients gelöst zu haben, die Erneuerung abendländischer Formen durch germanischen
Geist“65. Die damit durch sie vorgenommene Verschiebung des Schwerpunktes „der gan-
zen politischen Entwicklung von vornherein in den Norden“66 fand ihren deutlichsten
Ausdruck in ihrem Beitrag zur Festschrift für Dopschs siebzigsten Geburtstag im Jahr
1938, indem sie über „Die Kontinuitätsfrage“ – also ein zentrales Thema innerhalb des
Wissenschaftskosmos’ ihres Lehrers – handelte, das sie eng mit eigenen Forschungsergeb-
nissen verschränkte : „So war Mythos und Recht, Kunst und Verfassung, Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung besonders stark im Boden der germanischen Heimat verankert und
konnten deshalb die Franken vielleicht besser und leichter als andere Stämme den frem-
den Einrichtungen begegnen, sie umformen und weiterbilden, ohne dabei ihre völkische
Eigenart zu verlieren. Deshalb war vielleicht auch ihre Basis für die Bildung eines Groß-
reiches gesicherter als die anderer Germanenstaaten, und der Schwerpunkt der Völkerge-
meinschaft, der schon seit langem nicht mehr in Rom lag, sondern allmählich über die
Alpen gerückt war, fand nun sein festes Zentrum, indem die beiden getrennten Ströme,
die sich jahrhundertelang kulturell schon berührt hatten, Germanenturn und Römertum,
im Frankenreich staatlich vereinigt wurden“.67
hier 98) schlussfolgerte sie : „Danach haben tatsächlich eine Reihe hervorragender französischer und belgischer
Gelehrter ausdrücklich ihre Zustimmung zu der Theorie Pirennes kundgegeben, wenn es mir auch scheinen
will, als hätten doch auch dort schon bedeutsame Gegenargumente wenigstens andeutungsweise Ausdruck ge-
funden. Immerhin aber konnte Pirenne die Diskussion damit schließen, daß er feststellte, über die wesentlichen
Punkte seiner Theorie herrsche im Kreise der anwesenden Gelehrten Einmütigkeit.“ (ebd. 2).
63 Patzelt, Die fränkische Kultur und der Islam (wie Anm. 2) Vorwort.
64 PA Patzelt (wie Anm. 4) fol. 176r.
65 Patzelt, Die fränkische Kultur und der Islam (wie Anm. 2) 240.
66 Ebd. 238.
67 Erna Patzelt, Die Kontinuitätsfrage, in : Alfons Dopsch, Wirtschaft und Kultur, Gesammelte Aufsätze 2
(Baden/Leipzig 1938) 18–33, hier 33. – Natürlich argumentiert sie auch hier gegen Thesen Pirennes, ohne
diesen aber namentlich zu nennen, sondern nur mit der Formulierung „wie ein belgischer Forscher meinte“
(25) auf ihre eigenen Veröffentlichung „Die fränkische Kultur und der Islam“ zu verweisen.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625