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Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941) 429
Deutlich wird das Ideal einer objektiven Geschichtsschreibung mit der Erkenntnis,
dass diese aus ihrem Kontext heraus und den Interessen der vergangenen Gegenwart ent-
springt. Diese Erkenntnis bestimmt ihr Herangehen an Historiographie und macht sie
mit einer fast à la Bourdieu soziologischen Perspektive deutlich zu einer Historikerin
der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte : „Au lieu de projeter nos notions à nous dans les
siècles révolus, essayons plutôt d’y saisir, d’y dégager les catégories spécifiques de pensée
et d’action, sous lesquelles se déroulait la vie sociale et intellectuelle de nos ancêtres“126.
Diese Vorstellungen von Geschichte und Geschichtsschreibung sind richtungsweisend.
Sie schreibt Ideengeschichte, verknüpft Geschichte bereits mit Elementen der Diskurs-
analyse. Das Werk Vargas beschränkt sich im Grunde auf diese ihre Dissertation und
einige weitere Artikel sowie auf Rezensionen. Als Wissenschaftlerin selbst hat sie keine
weiteren umfassenden Arbeiten vorgelegt. So ist es zu großen Teilen den Recherchen des
deutsch-französischen Historikers Peter Schöttler zu verdanken, dass Vargas Geschichte
überhaupt erzählt werden kann127.
Kontakte zu Marc Bloch und Lucien Febvre
Viele Informationen über Leben und Arbeit Lucie Vargas verdanken wir dem Umstand,
dass sie eng mit zwei Historikern zusammenarbeitete, die ins Rampenlicht der Wissen-
schaftsgeschichte gerückt sind und deren Nachlässe nicht nur erhalten, sondern auch
aufgearbeitet wurden. Schöttler beschreibt genau den Moment, in dem Varga in diesem
Zusammenhang ins Zentrum seines Interesses tritt. Er liest in der damals noch unveröf-
fentlichten Korrespondenz zwischen den französischen Historikern und Begründern der
Annales-Schule Marc Bloch (1886–1944) und Lucien Febvre (1878–1956)128 den Satz
Febvres, er habe eine entraineuse für seine wissenschaftliche Arbeit eingestellt129. Bei die-
ser „Trainerin“ handelt es sich um Varga, die an drei Vormittagen der Woche im Hause
Febvre erscheinen sollte, um mit Febvre zu arbeiten. Schöttler schreibt dazu : „Als ich die
Passage zum ersten Mal in den Archives Nationales auf der Mattscheibe eines Mikrofilm-
126 Dies., Moyen Âge et Renaissance, in : Revue de synthèse 11 (1934) 131.
127 Schöttler, Varga, (wie Anm. 80) ; Ders., Lucie Vargas Bücher. Erfahrungen mit einer unabgeschlossenen
Biographie, in : Werkstatt Geschichte 7 (1994), 63−67 ; Ders., Les autorités invisibles. Une historienne au-
trichienne aux Annales dans les années trente (Paris 1991) ; Ders., Lucie Varga ou la face cachée des anna-
les, in : Sextant 13/14 (2000) 227−246, sowie zuletzt Ders., Lucie Varga (1904-1941), l’„entraîneuse“ (wie
Anm. 105).
128 Siehe Peter Burke, Offene Geschichte. Die Schule der „Annales“ (Berlin 1991), sowie Alles Gewordene hat
Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929−1992. Mit einem Essay von Peter Schöttler, hg. v.
Matthias Middell, Steffen Sammler (Leipzig 1994).
129 Schöttler, Lucie Varga (wie Anm 80) 5.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625