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Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941) 437
Ähnliches fehlen aus jener Zeit. Suzanne Febvre habe nach Febvres Tod 1956 alle Briefe
zwischen den beiden vernichtet, auch in der Korrespondenz zwischen Bloch und Febvre
fehlt fast ein ganzer Jahrgang. Briefe, die sich in Vargas Besitz befunden haben, sind aller
Wahrscheinlichkeit nach auf der Flucht verloren gegangen. Mit dem Bruch war Varga in
einer sich weltpolitisch immer mehr zuspitzenden Situation ganz auf sich allein gestellt.
Sie musste neue Wege finden, um Geld zu verdienen, um ihr eigenes und das Leben ihrer
Tochter zu sichern, um zu veröffentlichen und wissenschaftlich aktiv zu sein. Da Varga nun
aus dem Licht der beiden großen Historiker herausfällt, deren Korrespondenz von der Ge-
schichte sorgsam gehütet wurde, werden Dokumente rar, die ihr weiteres Leben bezeugen
könnten. Alle Informationen, die über das weitere Leben Lucie Vargas existieren, gehen
zurück auf Schöttlers Korrespondenz mit Vargas Tochter Berta. Den Angaben ihrer Toch-
ter folgend habe ihre Mutter einige Zeit versucht, in einem Elektrogeschäft zu arbeiten,
dann in einer Fabrik. Um die französische Staatsbürgerschaft und einen unverdächtigen
Namen zu erhalten, war sie außerdem eine Scheinehe mit einem Mann namens Robert
Morin eingegangen160.
1939 wurde sie bei der Nachrichtenagentur Havas angestellt, wo sie Texte abtippte,
übersetzte und zusammenfasste. Als Havas Paris verlassen musste, wurden die Angestellten
auf Lastkraftwagen in Richtung Bordeaux evakuiert. Lucie Varga verließ ihre Wohnung
und damit ihre Bibliothek, deren Teile Peter Schöttler gemeinsam mit Berta Varga 1993,
also 50 Jahre nach der Flucht, in Viroflay wieder auffinden sollte161. Mutter und Tochter
kamen nach Bordeaux und verbrachten den Sommer 1940 in Lourdes. Von dort aus gin-
gen sie sie nach Toulouse, wo Varga eine Weile auf einem Landgut als Deutschlehrerin
und Helferin in der Landwirtschaft arbeiten konnte. Schließlich zogen sie in ein kleines
Haus in Pibrac. Berta Varga schreibt, sie hätten Hühner, aber kein Hühnerfutter gehabt,
dennoch sei ihre Mutter regelmäßig in die Bibliothek gegangen. Da sich Varga nur unre-
gelmäßig Insulin beschaffen konnte, ging es ihr gesundheitlich zunehmend schlechter, und
überdies kam nach dem „Anschluss“ Österreichs auch von ihrer Mutter kaum noch Hilfe.
Die Situation spitzte sich dramatisch zu, als Varga – infolge ihrer Diabetes ins Vorkoma ge-
fallen – vom ansässigen Dorfarzt nicht behandelt wurde. Der Mediziner hatte eine illegale
Abtreibung vermutet und mögliche Konsequenzen einer Erste-Hilfe-Leistung gescheut.
Lucie Varga wurde schließlich doch – freilich zu spät – nach Toulouse ins Krankenhaus
gebracht und ist dort am 26. April 1941 gestorben. Berta Varga wurde von ihrer Groß-
Febvre, um die Fortdauer und weitere Intensivierung der Beziehung zwischen ihrem Mann und seiner Mit-
arbeiterin zu verhindern, von ihrem Mann eine Entscheidung gefordert, die er auch traf – zugunsten von
Karriere und Familie.“
160 Dies und das Folgende wiederum nach Schöttler, Varga (wie Anm. 80).
161 Schöttler, Vargas Bücher, (wie Anm. 127).
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625