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466 Reinhard Blänkner
ihre Gegenstandsfelder ? Ausgangspunkt, um diesen Fragen – hier nur andeutungsweise –
nachgehen zu können, ist der bereits erwähnte Zusammenhang zwischen dem durch die
politischen Folgen des Ersten Weltkriegs sowie durch den krisenhaften sozialen Umbau
zur industriellen Massengesellschaft ausgelösten Erfahrungswandel und wissenschaftli-
chem Methodenwechsel114. Vor allem die Krise der modernen Staatlichkeit – das Problem
der Souveränität sowie der pluralistischen oder autoritären politischen Willensbildung
– hat Brunner unter dem Eindruck der politischen Gewalt- und Bürgerkriegserfahrun-
gen und der staatsrechtlichen Kontroversen namentlich zwischen Hans Kelsen und Carl
Schmitt seit den 1920er Jahren intensiv beschäftigt115. Dabei hat ihn die Konfrontation
mit den mittelalterlichen Quellen, in denen Souveränität, also das staatliche Monopol
legitimer Gewaltsamkeit, nicht nachweisbar ist, zur grundsätzlichen Kritik an der Anwen-
dung moderner politischer, juristischer und sozialer Kategorien auf die mittelalterliche
Ordnung geführt, die er mit Hilfe einer „quellenmäßigen Begriffssprache“ darzustellen
forderte116.
Die Reflexion über die Historizität wissenschaftlicher Kategorien ist eine Reaktion auf
diese vielschichtigen Krisenerfahrungen und Teil eines grundlegenden Methodenwechsels,
der bereits Brunners frühe Arbeiten durchgängig charakterisiert. Dass er diesen innova-
tiven Methodenwechsel der Abwendung von überkommenen positivistischen Kategorien
mit der politischen Hinwendung zur Volksgeschichte verbindet, liegt dabei ebenso wenig
in der Sache begründet wie die nationalsozialistische Überformung und Instrumentalisie-
rung des Volksbegriffs. Brunners Ansatz der Begriffsgeschichte avant la lettre war daher
keineswegs erst Folge seiner ideologischen Nazifizierung der Volksgeschichte seit Mitte der
1930er Jahre, die in die wortradikale Forderung nach einer „Revision der Grundbegriffe“
mündete117. Von „ideologischen Ursprüngen der Begriffsgeschichte“ (J. Van Horn Mel-
ton) bei Brunner zu sprechen und den „Anstoss“ für sein Konzept der Begriffsgeschichte
„aus dem Rekurs auf die nationalsozialistische Staats- und Rechtsgeschichte“ zu erklären
114 Siehe hierzu Reinhard Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropo-
logische Skizze, in : Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik (Frankfurt/M 2000) 27–77 (zuerst 1988) ;
Lenger, Wurzel (wie Anm. 88). Zur Zeitdiagnostik der 1920/30er Jahre siehe insbesondere Karl Mann-
heim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (Leiden 1935). Siehe auch Otto Gerhard Oexle,
‚Staat‘ – ‚Kultur‘ – ‚Volk‘. Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit
1918–1945, in : Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. v. Peter Moraw, Rudolf Schief-
fer, (VuF 62, Ostfildern 2005) 63–101.
115 Siehe hierzu Pierangelo Schiera, Otto Brunner, uno storico della crisi, in : Annali (wie Anm. 10) 19–37 ;
Blänkner, „Staatsbildung“ (wie Anm. 10) 93–105.
116 Brunner, Land und Herrschaft (wie Anm. 2) 193. Zuvor bereits programmatisch Ders., Zum Problem der
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in : Zs. für Nationalökonomie 7 (1936) 671–685.
117 Brunner, Politik und Wirtschaft (wie Anm. 66) 422.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625