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474 Reinhard Blänkner
5. pensionierung – scheitern in wien
Noch im Januar 1945 hatte Brunner in dem bereits durch Zerstörungen gezeichneten
Berlin in gänzlicher Verkennung des bevorstehenden militärischen Zusammenbruchs
NS-Deutschlands einen historisch-politischen Durchhaltevortrag gehalten151. Den Zu-
sammenbruch erlebte Brunner in Wien, als am 13. April sowjetische Truppen die Stadt
eroberten. Im Zuge der „Reinigung des Lehrkörpers“ der Universität, die der neu kon-
stituierte Akademische Senat umgehend einleitete, wurde Brunner im August aufgrund
seiner Mitgliedschaft in der NSDAP amtsenthoben und in den vorläufigen Ruhestand
versetzt152.
Im Mai des kommenden Jahres kam die für die Entnazifizierung eingesetzte Sonder-
kommission beim Bundesministerium für Unterricht zu der Erkenntnis, dass Professor Dr.
Otto B r u n n e r […] nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür [bietet], dass er jeder-
zeit rückhaltlos für die unabhängige Republik Oesterreich eintreten werde. Als Entscheidungs-
gründe für diese Erkenntnis, die die politische Entlastungsformel des § 21 des „Verfas-
sungsgesetzes vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz)“ aufgriff153,
führte die Kommission u. a. an, dass sie zu der Überzeugung gelangt sei, Brunner sei der
Partei beigetreten, weil er, nach eigenem Eingeständnis, irrtümlich […] in der Annexion
Oesterreichs die Verwirklichung der Anschlußidee sah. Dass er erst nach fünfjähriger Warte-
zeit, nachdem er vorher abgelehnt worden war, die Mitgliedschaft erworben habe, spräche
dafür, dass er von der Partei nicht besonders günstig beurteilt worden sei. Außerdem habe
Brunner sich in anerkennenswerter und uneigennütziger Weise für Personen, die vom 3. Reich
wegen ihrer Abstammung verfolgt wurden, tatkräftig und erfolgreich eingesetzt, was von einer
Reihe von Personen schriftlich bestätigt worden sei. Auch sei von einer Reihe von Personen
schriftlich bestätigt worden, dass er in immer sachlicher Form den Unterricht geführt hat. Da
es aber, so die Sonderkommission in ihrer abschließenden Beurteilung, mit Rücksicht auf
die Parteienvereinbarung nicht möglich erscheint, ihn weiter als Lehrer auf akademischem
Posten zu beschäftigen, empfiehlt die Sonderkommission dem Ministerium, seine wertvolle
151 Siehe oben Anm. 104.
152 Zur Situation nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und der Entnazifizierung an der Universität Wien
siehe Gernot Heiss, Wendepunkt und Wiederaufbau : Die Arbeit des Senats und der Universität Wien in
den Jahren nach der Befreiung, in : Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, hg. v. Mar-
garete Grandner, Gernot Heiss, Oliver RathkolB (Innsbruck 2005) 9–37 ; Oliver RathkolB, Die Uni-
versität Wien und die „Hohe Politik“, in : ebd. 38–53. Zur Lage der Geschichtswissenschaft siehe Gernot
Heiss, Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive ? Die mittlere, neuere und österreichische Ge-
schichte, sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945–1955, in : ebd. 189–210,
zu Brunner 190f. Siehe auch Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich (Wien 1981) insbes. 94–124
und 170–190.
153 Vgl. Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich 1945, 4. Stück 06.06.1945.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625