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Francesco Caccamo
ritär erachtete. Die vorhandenen Quellen zeigen jedoch ein komplett anderes
Bild, das viel ungewisser und komplexer war. Obwohl es in den Jahrzenten
davor vermehrt Anzeichen gab, die auf eine Auflösung der Habsburgermo-
narchie hindeuteten, zeigte sich die italienische nationalliberale Führungs-
schicht, die von großen taktischen und strategischen Unsicherheiten sowie
von heftigen internen Debatten geplagt war, grundsätzlich unvorbereitet auf
den Umgang mit dem Ende der Donaumonarchie. Mit der Pariser Konferenz
machte sich auch noch das frustrierende Gefühl breit, dass den territorialen
Forderungen nach den Gebieten an der östlichen Adria nicht gebührend Ach-
tung geschenkt worden sei. Außerdem gibt es ein zusätzliches Detail, welches
in den Dokumenten stellenweise zu finden ist. Dies mag vielleicht auf den
ersten Blick wenig relevant erscheinen, darf aber meines Erachtens nicht un-
berücksichtigt bleiben: Die italienischen Politiker, die aufgrund ihres im Ri-
sorgimento und im Postrisorgimento verankerten kulturellen Hintergrunds
dazu tendierten, das Nationalitätsprinzip ihren Bedürfnissen und Interessen
unterzuordnen – dieses aber nie gänzlich ablehnten – blickten voller Verwun-
derung auf die Amtskollegen anderer Siegermächte, die Österreich mit einer
gewissen Unverfrorenheit eine Unabhängigkeitslösung aufzwingen wollten,
mit der Millionen Österreicher nicht einverstanden waren. In weiterer Folge
wurde die bei der Friedenskonferenz etablierte Ordnung – wobei die öster-
reichische Unabhängigkeit an das strengste Anschlussverbot gekoppelt war
– von der italienischen Führungsschicht nur unter Vorbehalt akzeptiert. Die
Anhänger der „Nationalitätenpolitik“ betrachteten diese Ordnung eher als
das kleinere Übel, das indirekt die befürchtete Entstehung einer Donaufö-
deration, bestehend aus den meisten Teilen des kürzlich zerfallenen Reiches,
verhindern konnte. Andere hingegen, unter ihnen Sidney Sonnino, sahen ge-
wisse Vorteile darin und hielten diese neue Regelung für ein geeignetes Mit-
tel, um die Bildung einer an Italien angrenzenden großen deutschen Nation
zu vermeiden. Doch jeder betrachtete die Pariser Ordnung als Ausdruck des
Willens anderer. Man fühlte sich deswegen nur zum Teil zu deren Erhaltung
verpflichtet. Zudem herrschte die Meinung vor, dass es nicht Aufgabe der
italienischen Politik sei, Österreich und Deutschland gezwungenermaßen
getrennt zu halten, da dabei die Gefahr bestand, die Ziele Italiens aus den
Augen zu verlieren.
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Title
- Die schwierige Versöhnung
- Subtitle
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Authors
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Editor
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Publisher
- Bozen-Bolzano University Press
- Location
- Bozen
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Size
- 16.0 x 23.0 cm
- Pages
- 616
- Keywords
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Categories
- Geschichte Nach 1918