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Die italienische Führungsschicht und die Entstehung der österreichischen Republik
Seit 1914/15 hatten bereits manche Persönlichkeiten, die in den dem demo-
kratischen Interventionismus nahen Kreisen tätig waren, ihre Überzeugung
zum Ausdruck gebracht, dass der Weltkrieg zu einer umfassenden Änderung
der internationalen Ordnung, zu einem Zusammenbruch der autokratischen
Regime und zu einem flächendeckenden Demokratisierungsprozess führen
würde. Vor allem würde der Krieg die Völker der Habsburgermonarchie von
der von Mazzini sogenannten „Gefangenschaft“ befreien und die Emanzi-
pation der „unterdrückten Nationalitäten“ fördern. Blieben die Befürworter
der Delenda Austria fast für die gesamte Dauer des Konflikts zunächst nur am
Rande der italienischen politischen Landschaft ohne die Unterstützung von
wichtigen Vertretern der Führungsklassen und der Öffentlichkeit, so änderte
sich die Situation Ende 1917 nach der Niederlage von Caporetto drastisch.
Als es notwendig wurde, die Gefahr einer Niederlage abzuwenden und das
ursprüngliche Kriegsprogramm an die neuen international aufkeimenden
Orientierungen und insbesondere an die Wilsons´che New diplomacy anzu-
passen, so erfreute sich die Nationalitätenpolitik plötzlich großer Beliebtheit.
Es bildete sich ein breites und heterogenes politisches Lager, das radikale In-
tellektuelle, nationalistische Vertreter, Elemente aus dem Heer und aus der
Diplomatie umfasste und dessen Triebkraft die bekannteste Zeitung jener
Zeit war, und zwar der „Corriere della Sera“ unter der Leitung von Luigi Al-
bertini. Dieser Kreis konnte übrigens auch mit der Unterstützung des Regie-
rungsministers ohne Portefeuille Leonida Bissolati rechnen und, wenn auch
nur in geringerem Ausmaß, auf die Unschlüssigkeit und Ambiguitäten des
neuen Ministerpräsidenten Vittorio Emanuele Orlando bauen9.
9 Zur Nationalitätenpolitik ist im Laufe der Zeit eine umfassende Literatur erschienen:
Angelo Tamborra, L’idea di nazionalità e la guerra 1914–1918, in: Atti del XLI Congresso
di storia del Risorgimento italiano (Roma 1963); Leo Valiani, La dissoluzione dell’Austria
Ungheria (Milano 1966); Roberto Vivarelli, Il dopoguerra in Italia e l’avvento del fascis-
mo (Napoli 1967); Ottavio Barié, Luigi Albertini, Il „Corriere della Sera“ e la „politica delle
nazionalità“, (1917–1919), in: Storia e Politica, 8/1 (1969) 43–87; Luciano Tosi, La propaganda
all’estero nella prima guerra mondiale (Pordenone 1977); Luciano Monzali, Albertini, la gu-
erra mondiale e la crisi del dopoguerra, in: Luigi Albertini, I giorni di un liberale. Diari
1907–1925, hrsg. von Luciano Monzali (Bologna 2000) 155–171; Mark Cornwall, The Un-
dermining of Austria-Hungary. The Battle for Hearts and Minds (London–New York 2000)
112–173; Massimo Bucarelli, Mussolini, la questione adriatica e il fallimento dell’interven-
tismo democratico, in: Nuova Rivista Storica 95/1 (2011) 137–205. Die wichtigste Quelle ist
allerdings das persönliche Zeugnis, das etliche Hauptmitglieder dieser Bewegung ablegten:
Luigi Albertini, Epistolario 1911–1926, 4 Bde., hrsg. von Ottavio Barié (Milano 1968); Gae-
tano Salvemini, Carteggio, 8 Bde., hrsg. von Sergio Bucchi, Enzo Tagliacozzo und Michele
Affinto (Roma–Manduria 1984–2007); Amendola, Carteggio.
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Title
- Die schwierige Versöhnung
- Subtitle
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Authors
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Editor
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Publisher
- Bozen-Bolzano University Press
- Location
- Bozen
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Size
- 16.0 x 23.0 cm
- Pages
- 616
- Keywords
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Categories
- Geschichte Nach 1918