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Die italienische Führungsschicht und die Entstehung der österreichischen Republik
trag die Verpflichtung enthalten solle, die Unabhängigkeit und Integrität
Österreichs als unabdingbare Voraussetzungen festzulegen. Dies hatte erhebli-
che Folgen, denn es bedeutete, dass sowohl ein erzwungener „Anschluss“
Österreichs an Deutschland als auch eine von den Österreichern selbst ge-
wollte Union verboten waren. Deswegen stieß dieser Vorschlag anfangs auf
Wilsons Widerstand. Der amerikanische Präsident stellte nämlich fest, dass
der Begriff unabdingbar in Wiederspruch zum Völkerrecht stehe. Nach einigen
Überlegungen fand Wilson jedoch eine Formel, die sein Gewissen beruhig-
te. Daraufhin wurde beschlossen, dass es ausschließlich Aufgabe des Völ-
kerbundrats war, in Zukunft über die Unabdingbarkeit der österreichischen
Unabhängigkeit zu entscheiden (eine sehr abstrakte Idee, da Beschlüsse vom
Völkerbundrat nur einstimmig gefasst werden konnten)21. Um jeden Zweifel
auszuräumen, hielten die Vertreter der Siegermächte in den darauffolgenden
Tagen fest, dass die österreichisch-deutsche Grenze so wie vor dem Krieg be-
stehen bleibe22; in diesem Sinne wurden auch die Wiener Behörden Ende Mai
1919 angewiesen, die offizielle Bezeichnung „Deutschösterreich“ in „Öster-
reich“ zu ändern (Wilson schlug „Neuer Staat Österreich“ vor)23.
Da die italienische Delegation nach Paris zurückkehren musste, um
die Abgabe der Friedensbedingungen an die deutsche Delegation nicht zu
versäumen und nicht von der Entente ausgeschlossen zu werden, unter-
schrieb sie in aller Eile die in ihrer Abwesenheit getroffenen Beschlüsse. Die
Mitglieder der italienischen Delegation sprachen darüber hinter verschlosse-
nen Türen und drückten ihre Enttäuschung aus. Als Sonnino mit Bedauern
feststellen musste, dass die Engländer und die Amerikaner zusammen mit
den Franzosen einen Vertrag abgeschlossen hätten, der de facto die rheinische
Grenze sicherte, ohne die Zustimmung Italiens einzuholen, behauptete er:
Wir müssen uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern; wir wollen keine
Verpflichtungen […] lieber allein als in schlechter Gesellschaft. Als der italienische
21 Sitzungsprotokoll des Rates der Vier, 2. Mai 1919, in: Papers Relating to the Foreign
Relations of the United States. The Paris Peace Conference, 13 Bde. (Washington 1942–1947)
V 421; Les délibérations du Conseil des Quatre (24 mars–28 juin 1919). Notes de l’officier in-
terprète Paul Mantoux, 2 Bde. (Paris 1955) I 461–464.
22 Protokoll der Sitzung zwischen Wilson, Lloyd George und Clemenceau, 6. Mai 1919,
FRUS, PPC, V 476 f.; Les délibérations du Conseil des Quatre, I 494.
23 Sitzungsprotokoll des Rates der Vier, 26. Mai 1919, FRUS, PPC, VI 45 f.; Les délibérati-
ons du Conseil des Quatre, II 215 ff.
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Title
- Die schwierige Versöhnung
- Subtitle
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Authors
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Editor
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Publisher
- Bozen-Bolzano University Press
- Location
- Bozen
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Size
- 16.0 x 23.0 cm
- Pages
- 616
- Keywords
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Categories
- Geschichte Nach 1918