Page - 64 - in Die schwierige Versöhnung - Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
Image of the Page - 64 -
Text of the Page - 64 -
64
Maddalena Guiotto
mit Sicherheit nicht als besten Garanten für eine Autonomie mit verbesserten
sozioökonomischen Bedingungen für die Trientiner ansehen konnte.
Die Unfähigkeit, eine Strategie gegen die Teuerung zu entwickeln,
und die Opposition des Nationalverbandes führten zum Sturz der Regie-
rung Gautsch und deren Ersetzung durch eine Beamtenregierung unter Graf
Stürgkh. Obwohl die neue Regierung ständig am Rande der Krise stand,
konnte sie sich lange halten und stellte den Höhepunkt der österreichischen
Tradition dar, mithilfe von Notverordnungen gegen das Parlament zu regie-
ren. In der gesamten Regierungszeit des Ministeriums Stürgkh, also von 1911
bis 1914, trat das Abgeordnetenhaus immer nur kurze Zeit zusammen, um
auf Regierungsinitiative über konkrete Vorhaben zu debattieren – ständig mit
der Drohung einer Vertagung, wenn man sich an den „von oben ausgespro-
chenen Willen“ nicht anpasste66.
Hier stagniert alles, ein einziger Sumpf. Der Saal ist halbleer, schrieb De
Gasperi in einem Artikel über die Parlamentsarbeiten. Auf der Ministerbank
vertrete ein Generalmajor zwischen dem einen oder anderen Gähnen die
Landesverteidigung und in den Arbeitsbereichen scharten sich die Anhänger
um einen Abgeordneten, der für die Stenografen einen jämmerlichen Mono-
log rezitierte. In einem anderen Arbeitsbereich habe ein Dalmatiner erklärt,
wie seiner Meinung nach Österreich-Ungarn umgestaltet werden müsse.
Daraufhin erhob sich ein Ruthene, um zu fragen, ob seine Landsleute nicht
besser in Russland aufgehoben wären. Ein böhmischer Agrarier habe einigen
die Postulate seines Wahlkreises ins Ohr geflüstert, aber niemand wusste,
wo dieser sei, abgesehen von seinen engsten Hausfreunden. So ginge es den
ganzen Tag weiter.
Das nennt sich „Parlamentsdiskussion“ und die Abgeordneten sprechen von
„hoher Kammer“ und die Journalisten schreiben von „Parlamentsarbeiten“,
teilen telegrafisch oder telefonisch davon mit. Ah, wenn es Worte gäbe, um den
Gedanken auszudrücken, müsste man diese langweilige Sinnlosigkeit nicht
hohen Sumpf nennen, in dem Frösche quaken, jeder für sich, als würde die
Welt außerhalb nicht existieren? Hin und wieder erscheint der Ministerprä-
sident wieder auf dem Podium. Es ist eine große und magere Gestalt, die par-
66 Ara, Governo e parlamento 151 f.
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Title
- Die schwierige Versöhnung
- Subtitle
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Authors
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Editor
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Publisher
- Bozen-Bolzano University Press
- Location
- Bozen
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Size
- 16.0 x 23.0 cm
- Pages
- 616
- Keywords
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Categories
- Geschichte Nach 1918