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Alcide De Gasperi und die österreichische Politik vom Reich bis zum „Anschluss“
tout nichts sagt. […] Nur manchmal, wenn aus dem Sumpf ein lauterer Ruf
kommt, hebt er ganz langsam sein Antlitz, das einer Sphinx gleicht, und es
scheint als wolle er sagen: Ah, und was, wenn Frösche Zähne hätten?!
De Gasperi fragte sich also, warum das Parlament stagnierte: In Wirklichkeit
hätten die Diskussionen außerhalb der Kammer auf den Korridoren statt-
gefunden; hier hätten sich die Minister und die Abgeordneten in kleinen
Gruppen zusammengefunden, diskutiert, Einigungen erzielt und über das
Schicksal des Staates entschieden. Auch die Italiener hätten etwas zu sagen
gehabt, sie hätten ihren Schrei der Verbitterung verlauten lassen wollen, aber
die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen, sei in weiter Ferne. Werft euren elenden
Namen zu den anderen hundert deutschen kroatischen, polnischen, slowenischen,
tschechischen, ruthenischen, serbischen, rumänischen Namen … Dann wird sich das
Rad der Urne drehen und wer Glück hat, ist dran. Wer als Zehnter oder Zwölfter
an der Reihe gewesen wäre, hätte sehr wahrscheinlich nicht sprechen kön-
nen, denn auf Wunsch der Mehrheit wurde die Diskussion geschlossen. Die-
ses fatale Rad […] symbolisiert so gut das Schicksal unserer zwischen den Nationen
hin und her geworfenen Vertreter, die das Beste an sich reißen und die anderen in den
Halbschatten der Enterbten jagen. Letzteren bliebe nichts anderes übrig, als sich
in den eigenen Klub und die Ausschüsse zurückzuziehen und zu versuchen,
allein jene Ergebnisse zu erzielen, die die parlamentarische Gemeinschaft ih-
nen verweigerte zu vetreten. Der Artikel endet mit der Anprangerung der
Rückständigkeit und Langsamkeit der kaiserlichen Staatsverwaltung67.
Der Reichsrat wurde auf Mitte März 1914 vertagt, dann aber von Mi-
nisterpräsident Stürgkh nicht mehr einberufen. Regiert wurde ausschließ-
lich per Notverordnungen. Das war das Zeichen des kompletten Zusammen-
bruchs der parlamentarischen Institution. Die Vertagung des Reichsrats auf
einen unbestimmten Zeitpunkt bedeutete das Ende der ersten Phase der par-
lamentarischen Tätigkeit De Gasperis in Wien.
Nach dem Tod Franz Josephs im November 1916 berief der neue Kaiser
Karl I. das Parlament für den 30. Mai 1917 wieder ein, nachdem es mehr als
drei Jahre geschlossen gewesen war. Wenn man dem Parlament noch eine Ge-
legenheit einräumen wollte, gab es Grund zur Eile: Die Abgeordnetenmanda-
67 Alcide De Gasperi, La palude (Elegia di un esiliato), in: Il Trentino (21. März 1912); auch
in: Ders., Scritti e discorsi politici, Bd. I/2 1411 ff. (Übers. d. Verf.)
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Title
- Die schwierige Versöhnung
- Subtitle
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Authors
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Editor
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Publisher
- Bozen-Bolzano University Press
- Location
- Bozen
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Size
- 16.0 x 23.0 cm
- Pages
- 616
- Keywords
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Categories
- Geschichte Nach 1918