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November 1839
neuhaus zu verlassen, welches und seine Bewohner ich sehr lieb gewonnen
hatte, nur emil hat in dieser letzteren Zeit etwas von meiner Zuneigung ver-
loren, weil er, so viel verstand ich ihm auch noch immer zutraue, doch bei
näherer Bekanntschaft einen ziemlich ton de corps de garde und dazu einen
unverträglichen, launenhaften charakter entfaltet hat. dazu bin ich durch
seine beständigen Witzeleien über österreich und die österreicher, welche
oft ziemlich schaal und pöbelhaft ausfielen, oft sehr ennuyirt worden.
Jetzt also geht es nach Wien und zum schlusse meiner Pilgerfahrten, wie
wird sich dort mein schicksal entscheiden? ich sehe mit gänzlicher unge-
wißheit in die Zukunft.
vor 3 tagen las ich ganz zufällig in schärding in der linzer-Zeitung
meine ernennung zum überzähligen kreiscommissär und zwar im küsten-
lande.
sonderbarer Weise war mir diese ernennung gerade jetzt beinahe un-
angenehm, und seitdem beschäftigen mich hierüber ganz verschiedene ge-
danken. vor Allem fürchte ich, daß hiedurch mein langes unbefugtes Aus-
bleiben ämtlich zur sprache kommen dürfte, und dann wird man vielleicht
wollen, daß ich jetzt an meinen Posten zurückkehre, ich will aber Wien
durchaus jetzt nicht verlassen, da ich dadurch neuerdings meinen diploma-
tischen und sonstigen Projekten einen riegel vorschieben würde und zwar
dießmal wahrscheinlich für immer, nach görz gehe ich ohnehin in keinem
falle mehr zurück, kurz ich eile nach Wien, um dort die lage der dinge
kennen zu lernen.
gabrielle hat mir auf meinen Brief nicht geantwortet, sie muß daher ent-
weder noch in mähren oder schon in venedig sein, leider vermuthe ich das
letztere.
Perschling 21. november morgens
hier stehe ich denn am schlusse, nicht am Ziele meiner Pilgerfahrt, in we-
nigen stunden bin ich in Wien, wo sich mein schicksal entscheiden soll.
ich komme dießmal mit einer nicht geringen Aufgabe nach Wien, erstens
soll ich daselbst meine ernennung und zwar meine baldige ernennung,
denn zum Warten fühle ich mich bereits zu alt, in die diplomatie durchset-
zen, was bei fürst metternich’s gewohnheiten und bei dem umstande, daß
ich gerade bei ihm wenig oder gar keine fürsprache habe, keine kleinigkeit
ist, dann muß ich auf irgend eine Weise es dahin bringen, daß mir bis zur
entscheidung meine gegenwärtigen vorgesetzten Behörden, nämlich mitt-
rowsky und kolowrat, in Wien zu bleiben erlauben und mich nicht zwingen,
an meinen Posten abzugehen, endlich muß ich Wilczek besänftigen, der
über mein langes unbefugtes Ausbleiben wahrscheinlich feuer und flam-
men speien wird.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien