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Dezember 1839
hinauszuschieben. über diese Amusements und den heurigen Zustand der
societé in Wien nächstens ausführlich.
[Wien] 22. dezember
da ich von Weingarten noch keine Antwort auf mein urlaubsgesuch habe,
so schließe ich daraus, was ich immer vermuthete, nämlich, daß er es den
gewöhnlichen geschäftsgang gehen lassen will, wobei es, da ich schon seit
mehr als 6 monaten auf urlaub bin, folglich eine weitere verlängerung nur
von der hofkanzlei ausgehen kann, auf keinen fall vor dem 20–25 Jänner
entschieden sein kann, und ich daher jedenfalls die gewünschte verlänge-
rung genieße.
mir ist nun, seit sich meine ungewißheit und Zweifel wenigstens für den
Augenblick gelegt und ich doch wenigstens für jetzt einen entschluß gefaßt
habe, im vergleiche mit früher ordentlich wohl ums herz, da ich in Pisino
keinen langen Aufenthalt zu machen hoffe, sei es nun aus dem einen oder
dem anderen meiner beiden oben angeführten gründe, so sehe ich dem-
selben als einer Periode von thätigkeit nach so langer, vergleichungswei-
ser unthätigkeit mit vergnügen entgegen. nur möchte ich meine Ankunft
dort soviel als möglich hinausschieben, erstens um dem Winter, welcher in
einem solchen neste doppelt fatal sein muß, größtentheils auszuweichen,
und dann, weil ich mich wieder einmal hier amusiren und alle meine al-
ten Bekanntschaften wieder erneuern möchte. Wien ist zwar gerade heuer
sehr todt und verspricht blutwenig unterhaltung für den fasching, das di-
plomatische corps ist gelähmt, da die familie saint Aulaire in Paris ist
und tatitcheff keine damen bei sich hat. metternich ist in trauer sowie
die ganze familie Zichy und die der herzogin von sagan. mehrere sind
auf reisen, und der landtag in Preßburg absorbirt einen großen theil der
Zurückgebliebenen, doch aber finde ich viele meiner sonstigen besten Be-
kannten wieder und bin sonach eben jetzt, und da ich nur schlechteres en
perspective habe, recht gerne hier, obwol ich sonst Wien nur sehr wenige
eigenschaften einer großen stadt anerkenne. überhaupt amüsirt mich jetzt
nicht mehr wie sonst das getriebe der großen Welt, d.h. ihre vollgepfropften
salons und routs, besonders nicht in einer so entsetzlich geistlosen und
schaalen Welt, als es die hiesige ist, sondern was ich wünsche und suche,
ist der nähere geistigere umgang mit einigen Wenigen, in deren Auswahl
ich aber sehr exclusive bin.
solche nähere liaisons habe ich bis jetzt theils wieder aufgenommen,
theils neu angeknüpft mit Coudenhoven, Seilern und Lerchenfeld. Gräfin
Coudenhoven ist der personifizirte Hausverstand, aber auch sonst ziemlich
amüsant, und ich bin ihr nebstdem aus älterer Zeit freundschaft und dank
schuldig. Gräfin Seilern ist eine deliciose, geistvolle, junge Frau, welcher ich
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien