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Jänner 1840
zu machen, denn großartiger, cosmopolitischer, grandioser als Pisino ist
Wien auch nicht um ein haar, und nebstdem habe ich dort doch eine Be-
schäftigung, welche mir hier oft sehr abgeht.
der carneval hat hier begonnen, langweilig und todt, wie er überhaupt zu
sein verspricht. Auf einem Ball beim französischen gesandten bewunderte
ich seit mehreren Jahren wieder zum ersten male das heer von garstigen,
sitzen bleibenden comtessen und die ennuyante und ennuyirte Phisionomie
eines Wiener routs.
fürst Pückler ist hier mit seiner Abyssinierin, die er hier in ein institut
geben will,1 ich habe ihn aber noch nicht gesehen.
heute schrieb mir gabriele von venedig, wo sie am 4. angekommen ist, sie
ist sehr traurig und niedergeschlagen, so daß die herrlichkeiten venedigs
keinen eindruck auf sie machten, diese erste Wirkung des heimwehs und
des gefühles, sich zum ersten male allein unter fremden zu wissen, finde
ich natürlich und aus meiner eigenen erinnerung begreiflich. flore schrieb
mir gestern, sie amusirt sich unendlich. münchen ist ganz unglaublich bril-
lant und von sehr vielen fremden besucht, also jedenfalls hundertmal gran-
dioser als Wien, wäre ich nur dort und heraus aus dem schlamme und kothe
des geliebten vaterlandes!
[Wien] 15. Jänner
vorgestern auf dem Balle beim russischen Botschafter sah ich den fürsten
Pückler, dessen aristokratisches exterieur mir sehr gefiel, dann sah ich noch
mucki Waldstein, der eben von triest ankömmt und mir sagte, der gouver-
neur lasse mir sagen, bis zum 20. dieses monats könne ich hier bleiben, län-
ger aber nicht. Beides machte auf mich entgegengesetzte, jedoch gleich tiefe
und unangenehme eindrücke. in fürst Pückler sah ich einen mann, welcher
ohne großes vermögen, bloß durch seinen kopf, seine feder und durch den
muth, aus der Alltäglichkeit herauszutreten, sich eine grandiose existenz,
einen europäischen namen gewonnen hatte, gerade so wie ich es wünsche,
gerade so wie ich die kraft dazu in mir fühle und will’s gott auch den muth.
in demselben Augenblicke aber empfing ich von der anderen seite eine rüde
mahnung an meine prosaische existenz, einen eulenruf, welcher mich in
meine finsterniß zurückrufen will.
Wenn ich jetzt so den gedanken an meine rückkehr näher ins Auge fasse,
als etwas nämlich, was sich binnen kurzer Zeit realisiren soll, so treten alle
meine vormaligen, kaum unterdrückten Zweifel und gewissensängste wie-
1 hermann fürst Pückler hatte 1837 auf einem ägyptischen sklavenmarkt die 14jährige
Abessinierin machbuba gekauft. sie starb 1840 kurz nach der rückkehr des fürsten auf
dessen gut muskau in der lausitz an tuberkulose.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien