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88 Tagebücher
werde, wenn ich selbst schon an meine Heimkehr werde denken müssen;
übrigens bin ich noch sehr im Zweifel, ob sie wirklich in der Schweitz ist; ihr
letzter Brief war aus carlsruhe, und sie schrieb mir zwar darin, sie werde
wahrscheinlich wieder in die schweitz zurück kehren, jedoch so confus und
unbestimmt, daß ich es durchaus nicht für gewiß annehme. dieses, dann
der umstand, daß ich nach diesen regengüssen wohl kaum von louèche
über die Berge ins Berner oberland kommen dürfte (wie es meine Absicht
war), endlich der ennui, zum 3. mal diese straße zu machen und 3 tage von
hier bis louèche zu brauchen, wenn nicht, was sehr möglich ist, unterwegs
wieder ein unfall eintritt, bewegen mich, heute nicht über den simplon zu
gehen, sondern zu versuchen, ob ich über den Gotthard kann; auf jeden Fall
aber bin ich heute noch in der schweitz, und dieses ist für mich unendlich
viel werth, denn mit enthusiasmus liebe ich dieses schöne land, seine na-
tur, sein leben und seine institutionen, und hänge noch immer mit ganz be-
sonderer liebe an den rückerinnerungen des vergangenen sommers. Auch
Gräfin Bombelles hätte ich gerne gesehen; es wird aber wohl nicht angehen,
denn wie gesagt, mein hauptzweck ist nicht das herumreisen, sondern mir
wo ein Plätzchen auszusuchen, und mit meinen 14 tag urlaub muß ich ge-
nau rath halten.
Bellinzona 22. september
Gestern um 1 1/2 Uhr fuhr ich mit dem Dampfschiff von Arona ab; es ist
wirklich eigen, daß Alles, was mit österreich in verbindung steht, das
dampfboot ist ein österreichisches, so ganz besonders unelegant, uncom-
fortable und hinter dem Jahrhundert zurück seyn soll; dieser Steamer, auf
welchem doch seit seinem Bestehen halb europa gefahren ist, ist ein so un-
geschicktes, elendes machwerk, daß man es ihm ansah, er sey ein vaterlän-
disches Produkt. gott besser’s, das war das sprichwort ich erinnere mich
nicht mehr welches deutschen kaisers.
überhaupt ist es für mich immer und so auch dießmal ein eigenes, wohl-
thuendes gefühl, wenn ich die österreichische grenze hinter mir sehe, mir
scheint da gleich der horizont freyer, meine gedanken werden weiter, um-
fassender, freier, erhabener, eine menge kleinlicher Preoccupationen und
ideen fallen ab wie schuppen von der haut des geheilten Aussätzigen, und
ich bin zufrieden mit mir selbst; so wie ich aber in Österreich bin, gerathe
ich wieder in jenen dunstkreis der dummheit und muß mich ordentlich er-
mannen, um einen freyen, vernünftigen gedanken zu haben, denn meine
gewöhnlichen gedanken drehen sich dort immer um das miserable einerley
einer energie-, zweck- und interesselosen existenz, heute kammerherr zu
werden, morgen auf der bureaucratischen eselsleiter zu avanciren oder ir-
gend einen spinat-orden zu erwischen, einer tänzerin die cour zu machen,
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien