Page - 90 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Volume I
Image of the Page - 90 -
Text of the Page - 90 -
90 Tagebücher
aussahen, aber entsetzlich viel und laut sprachen, sonst lauter italiener,
und folglich vulgar people, unter anderm ein geschwätziger kreutzlustiger
monsieur, der ein Paar katzen mit sich hatte und, so oft er sie ansah, vor
Entzücken aufschrie; ein affectirter junger Kerl, von Kopf zu Fuß lichtbraun
gekleidet (ich hielt ihn für einen capuziner in civilkleidern), der mich durch
sein unaufhörliches Auf und Ablaufen beinahe aus der fassung brachte, etc.
ein junger mensch bemerkte gegen das ende unserer fahrt zu seiner großen
Bestürzung, daß man seinen koffer aus versehen auf irgend einer früheren
landungsstation ausgeschifft habe, worauf ihn der schiffscapitän mit der
versicherung tröstete, es müsse ja dafür der koffer jenes herren zurückge-
blieben seyn. die fahrt war superbe, der lago maggiore ist magnifique, ohne
allen vergleich mehr als der kleinliche ignoble lago di como. von Arona bis
Pallanza und intra ist er ganz besonders schön durch die größe des Wasser-
spiegels der Berge im hintergrund und durch die menge der ortschaften,
inseln, villas etc., über die Borromeischen inseln wiederhole ich mein ur-
theil von letzthin; von Intra an, wo sich der See verengt, wird er wilder und
nicht weniger majestätisch; zuweilen erinnerte er mich an den Vierwald-
städtersee; bey Cannero stehen 2 alte zerfallene Schlösser mitten im See
wie im rhein der mäusethurm. nach 8 uhr Abends waren wir in magadino,
der Endpunkt des Sees, und ich betrat schweizerischen Boden; das Hotel
de la Poste war weniger als mittelmäßig. heute früh nach 11 uhr fuhr ich
nach langem herumzanken mit den spitzbübischen vetturino’s hieher, wo
ich gegen mittag ankam und in dem ebenfalls ziemlich miserablen hotel de
l’Aigle abstieg; ich begreife nicht, daß die Gasthäuser, die in der deutschen
und französischen schweitz so excellent sind, in der italienischen so schlecht
ausfallen.
der gotthard ist zu passieren, der eilwagen geht aber erst übermorgen
Früh von hier ab; bis dahin also muß ich hier bleiben und werde diese Zeit
mit lesen hinbringen, was jetzt ohnehin noch eine nothwendige vorarbeit
und einleitung ist, also verliere ich dadurch eigentlich keine Zeit.
ich schrieb gestern noch von Arona aus an die Briefpost in louèche, um
meine Briefe nach luzern zu schicken, denn dort will ich mich auf die Paar
tage, die mir noch gegönnt sind, niederlassen.
[Bellinzona] 23. september
Bellinzona ist ein kleines, langweiliges, düsteres Nest; die Lage ist schön,
wild, in einer ziemlich engen thalschlucht zwischen hohen felsen, die aber
beinahe alle dicht bewachsen sind, und in deren hintergrund sich die kah-
len himmelhohen gebirge der inneren schweitz, z.B. der s. gotthard etc.
erheben. diese sind nun schon Alle mit schnee bedeckt, und es ist auch hier
schon ziemlich kalt, so daß ich fast den ganzen tag beim kaminfeuer sitze.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien