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September 1840
caden zu beyden seiten des Weges, wovon wohl auch einige den beständigen
Regengüssen zu verdanken waren; doch regnete es bis gegen Abend heute
nicht oder doch nur sehr wenig, dagegen nahmen sich die Wolkenstreifen,
die an den Bergen hiengen und zuweilen kurzes herausbrechen der sonne
auf einen moment, einige magische Beleuchtungen, wunderschön aus. Bey
Biasca theilt sich das thal in 2 thäler, davon das eine, valle di Blenio,
rechts gegen graubünden hin, das andere aber, leventina, wodurch wir im-
mer längs dem Ticino hinfuhren, links fortgeht; dieses wird dann immer en-
ger und schauerlicher, hohe, theilweise kahle felsen und dazwischen fast
nichts als die straße und der fluß, der immer schäumender und tosender
wird durch die ungeheueren Felsmassen, die seinen Weg hemmen; mich er-
innerte das ganze eine Zeit lang lebhaft an den Weg durch obersteiermark
längs der mur von gratz bis zum semmering. Zwischen giornico, dem be-
rühmten schlachtfeld, wo die schweitzer 1478 die Armee des visconti in
den engen felsenschluchten und auf dem ausgetretenen und gefrorenen ti-
cino aufs haupt schlugen, und lavorgo fängt die erste steigung an, und da
befindet sich auch der berühmte superbe Fall des Ticino, welcher mit einem
donnerähnlichen getöse und ganz in schaum aufgelöst über und durch die
felsblöcke stürzt und sich ein mal durch 2 kaum 1 1/2 klafter entfernte
felsen drängen muß, die scene ist superb, und gerade über den höchsten
Fall führt eine Brücke; diese Partie machten wir zu Fuß, da eben hier eine
sehr bedeutende Steigung ist. Bey Faido ist ein magnifiquer Wasserfall,
Fadareio genannt; in Faido wechselten wir Wagen und fuhren weiter; von
da an fängt der klassische Theil der Gotthard-Straße an; fürchterlich sind
die verwüstungen, die der ticino im vorigen Jahr angestellt hat. die an
10–12 orten ganz zertrümmerte, nunmehr völlig vernichtete straße sahen
wir in ihren ruinen noch, man will sie nun nach und nach ganz in die
felsen hineinhauen, eine enorme, für den kanton fast unerschwingliche
Auslage; wir fuhren über provisorische, durch das vom Ticino verlassene
flußbett gebahnte Wege und ebenso provisorische hölzerne, nicht immer
feste Brücken. noch fürchterlicher aber waren, weil ganz frisch und die
spuren jeder einzelnen verwüstung noch ganz sichtlich, die verheerungen
dieses verderblichsten aller Ströme in diesen letzten Tagen; mehrere dieser
holzbrücken wieder abgerissen, häuser, mühlen, felder etc. vernichtet,
Bäume entwurzelt, kurz das schauspiel ebenso grandios als schauerlich.
hierauf kamen wir durch die sublimen carrièren, wo sich die straße, in den
felsen gehauen, durch eine kaum 3 klafter breite schlucht, beiderseits von
nackten felsen à pic begränzt, durchwindet, viele 100 fuß tief unter der
Straße der schäumende, rasende Ticino; ich habe in meinem Leben nichts
ergreifenderes, großartigeres gesehen, ich war wie verdutzt, und zum er-
sten mal fühlte ich mich ordentlich darnieder gebeugt von der erhabenheit
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien