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94 Tagebücher
der Scene um mich herum; kurz vor Airolo wiederholt sich dieses Schau-
spiel, jedoch nicht mehr so furchtbar und lange.
Am Ausgang jener Carrière ist Dazio grande; von da an fuhren wir durch
Alpenwiesen ohne bedeutende Steigung bis Airolo fort; jedoch wurden hier
erst die beispiellosen verheerungen des ticino recht sichtbar. häuser, die
noch wie durch ein Wunder schwebend da standen; andere wovon nur mehr
eine mauer stand, und doch noch das ganze dach darauf ruhte, abgerissene
zerstörte mühlen, Wohnungen, felder, Bäume, eingesunkene hütten etc.,
kurz es ist nicht zu beschreiben.
vor Airolo ist noch ein superber Wasserfall, wo das Wasser im herab-
fallen durch einen so partirten Block wieder bedeutend in die höhe ge-
trieben wird und so in einem ungeheuern schwung einen zweiten furcht-
baren Wasserfall bildet. Airolo liegt auf einer Alpenebene am fuß des
Gotthard; links geht das Thal des Ticino noch einige Stunden weiter bis
zu seinem ursprung, wo dann Wallis und das Berner oberland anfängt,
dessen Berge, z.B. die furka, man von hier sieht, so wie auch den rhone-
gletscher etc.
in Airolo speisten wir, und da lernte ich meine reisegefährten im haupt-
eilwagen kennen: es waren ein norddeutscher äußerst beweglicher und
wortreicher Baron [und] herr von frank, welchen ich mich hinterdrein er-
innerte, im vorigen Jahr bey Bombelles in interlaken gesehen zu haben.
Das fiel mir aber wie gesagt erst späterhin und aus seinen Reden ein, und
als er mich, wie ich sah, nicht kannte (was natürlich ist, da er mich nur
ein Mal, glaube ich, flüchtig sah, und ich damals Schnurrbart trug), und
ich zudem nicht wollte, daß Bombelles meinen Aufenthalt in der schweitz
erführen, aus mehreren gründen und hauptsächlich, weil sie es mir gewiß
übel nehmen würden, sie nicht besucht zu haben, so beschloß ich, ihn zwar
nicht zu meiden, was unmöglich gewesen wäre, sondern ihn von jeder spur
meiner Person abzubringen, und warf daher wie zufällig Äußerungen hin,
die ihn glauben machten, ich sey militär, da ich meine nationalität schon
der Sprache wegen nicht verläugnen konnte; der Baron aber schimpfte und
schrie viel mit der mir unendlich zuwideren norddeutschen Beweglichkeit
und suffisance, war aber außerdem ein sehr gebildeter und angenehmer,
viel gereister Gesellschafter; er heißt, glaube ich, Baron Guttersheim1 und
ist ein Westfale. das schreien und großmaul führen ist mir übrigens beson-
ders im Eilwagen sehr zuwider; wenn ich seulement [?] bin und im Eilwa-
gen reise, bin ich der niederträchtigste, geduldigste mensch von der Welt,
lasse mich mit füßen treten, verlange gar nichts und bin, in meines nichts
durchbrechenden Gefühle, froh, wenn mich die Leute nicht prügeln; doch
1 dieser oder ein ähnlicher name sind nicht feststellbar.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien