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106 Tagebücher
ser als unterkunft in stürmen und gestöber, und die Wegmacher, die in
denselben wohnen, sind angewiesen, arme reisende gratis zu verkösten.
Alles das ist wirklich schön und überraschte mich umsomehr, als ich der-
gleichen bey uns gar nicht erwartete. Besonders schön aber ist der theil
der straße, der 1834 abgerissen und sonach 1837–38 ganz neu erbaut und
in den Felsen hinein gehaut wurde; sie geht an einem rocher à pic in un-
endlichen Zic-zacs herunter, hat 4 mitunter erstaunlich lange, theils ge-
sprengte, theils gegen die lavinen gemauerte gallerien und ist wirklich
ganz superbe, die schönste straße, die ich je gesehen habe und die einer
jeden Regierung Ehre machen würde. Dabey ist der magnifique Wasserfall
der Pianazza, an dem man beständig herum fährt; er hat 300 Mètres Höhe
bis zum ersten bassin, wo er sich sammelt und dann wieder 468 mètres
tief hinab stürzt. in compodolcino wechselten wir Pferde und kamen nach
7 hieher, wo ich einen excellenten gasthof fand, worin eine ganze colonie
deutscher reisender.
in chiavenna ist schon ganz italiänischer himmel, die luft wehte mich
ganz anders an, warm und mild, und es war der herrlichste Abend, d.h.
nacht, mit mondschein und sternen, welches mir nach dem erst überstan-
denen regen und schneegestöber ganz besonders vorkam.
mitten auf dem Platz, dem hotel vis-à-vis steht hier eine große ruine,
welche zur Zeit, da chiavenna zu Bündten gehörte, ein regierungshaus
war; die Salis haben hier noch jetzt große Besitzungen.
graubündten besteht aus 3 Bünden: dem gotteshaus, den Zehngerich-
ten und dem Oberen Grauen Bund; jedoch besteht diese Eintheilung nur
in sofern mehr, als aus einem jeden derselben einer der 3 mitglieder des
kleinen rathes seyn muß, der die executive gewalt bildet, und welcher vom
großen rathe und dieser wieder von sämtlichen gemeinden, oder wie sie
hier heißen: Hochgerichte, gewählt werden; der Canton ist gemischt, jedoch
die mehrzahl reformirt, in chur ist ein Bischof.
mailand 6. oktober
von chiavenna ging es nach einer stunde in einem österreichischen eil-
wagen weiter: ich war ganz allein bis varenna, wo eine madame einstieg
und bis Lecco mitfuhr; ich schlief köstlich und sah daher von dem ganzen
schönen Weg über riva, colico, Bellano, varenna, lecco etc. gar nichts,
was auch sonst wegen der Nacht unmöglich gewesen wäre; in Lecco stiegen
einige leute ein. gegen 8 uhr waren wir nach einer höchst ennuyanten
fahrt durch die ebenso ennuyante lombardie in monza und um 10 uhr
hier.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien