Page - 111 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Volume I
Image of the Page - 111 -
Text of the Page - 111 -
11129.
Oktober 1840
soll es geschehen; übrigens habe ich diese Zeit nicht verlohren; beständiges
nachdenken und lesen haben mir vielleicht mehr vorgearbeitet, als es mit
dem schreiben selbst geschehen wäre, die idee, die frucht, ist reif, jetzt
heißt es pflücken und zubereiten.
[mailand] 29. oktober
Nächster Tage reist Erzherzog Albrecht von hier ab; sein Bruder Carl Ferdi-
nand ist schon vor 7 tagen weg und Prinz moritz von nassau wird ihm wohl
bald folgen; ich bin mit all dem Prinzenvolk dieser Zeit über täglich, und oft
mehr als ein mal täglich, und zwar meistens en tout petit comitè bey hartig,
in der hartig’schen loge, etc., mit nassau nebstdem mehrmals bei cova1
beym Essen zusammengetroffen; dieser und Erzherzog Albrecht, besonders
aber der letztere, sind sehr distinguirte und gebildete junge leute, welche
auch ohne ihre Stellung brilliren könnten; ich habe hier wieder bemerkt,
welch einen großen vorzug in der lebensart, den manieren und der selbst-
ständigen charakterbildung ein solcher stand gibt, kraft dessen man die
ganze Welt und ihre erscheinungen von einem viel höheren standpunkt,
gleichsam à vue d’oiseau ansieht, und zudem der allgemeinen Aufmerksam-
keit und déference, zugleich aber der allgemeinen Beobachtung bewußt ist;
solche menschen besitzen von Anfang an Alles das, was man sich in unse-
rem stande nur durch eine lange erfahrung, und zwar eine in der größten
Welt gesammelte erfahrung, und auch dann nur erwerben kann, wenn man
viel Verstand und Geist besitzt; denselben Eindruck ungefähr, denke ich,
müssen wir, unsere Bildung, unsere Art zu seyn, auf einen Plebejer ma-
chen.
Indessen drängen sich die politischen Ereignisse aller Art; der gegenwär-
tige moment ist der krittlichste seit 1830, und jeder tag bringt neues, im
orient die eröffnung der feindseligkeiten, die erstürmung von Beyruth,
wobei erzherzog friedrich sich so auszeichnete, worüber seine Brüder hier
im großen Jubel sind, die blocade von Alexandrien; die Zurückberufung
Stürmer’s scheint sich übrigens nicht zu bestätigen;2 dann die Abdankung
der regentin in spanien und das herannahen einer furchtbaren crisis in je-
1 das 1817 gegründete caffè e trattoria di Antonio cova.
2 im krieg gegen den ägyptischen statthalter mehemet Ali, der die unabhängigkeit vom
osmanischen reich anstrebte, unterstützten england, Preußen, russland und österreich
die türkei. erzherzog friedrich, Bruder der oben erwähnten Albrecht und karl ferdinand,
nahm als kommandant der fregatte „guerriera“ am krieg teil, für seine rolle bei der er-
stürmung von saida (sidon) am 26.9.1840 erhielt er am 25. oktober das ritterkreuz des
miltärischen maria-theresien-ordens. frh. Bartholomäus stürmer war als internuntius
chef der österreichischen diplomatischen vertretung in konstantinopel.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien