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Tagebücher136
lassen, vorgestern ein etwas scharfes capitel las. gestern früh schrieb er
mir nun einen ziemlich impertinenten Brief, worin er mir seine Absicht an-
kündigte, zu renonciren; da nun mein département während meiner Abwe-
senheit ganz verwaist bliebe, so mußte ich meine Abreise aufschieben, um
Anstalten zur ersetzung de capitani’s zu treffen.
übrigens trete ich diese reise ohne die mindeste freude und blos im ge-
fühl der nothwendigkeit an, mich zu zerstreuen und meinen durch ein ein-
förmiges, ruhiges vegetiren von 6 monathen verkrüppelten geist wieder
aufzufrischen; ich fühle eine Leere in mir, welche mir eine Abwechslung
nothwendig macht; und dieses peinliche Gefühl, welches mich überall ver-
folgt, ist mir durch diese letzte episode mit der Pirovano erst recht klar und
anschaulich geworden; eine große Thätigkeit oder eine große Leidenschaft
allein können mich heilen; sogar mein Werk, welches mich vorhin so sehr be-
schäftigte, ist mir zum ekel geworden und liegt, die letzte feile erwartend,
in meinem schreibtische. um alle miserabilitäten meiner jämmerlichen exi-
stenz zu erwähnen, habe ich auch letzthin ein gesuch um eine überzählige
gubernialsecretärsstelle nach Wien abgeschickt. o curas hominum, et quan-
tum est in rebus inane! – –
genua 23. märz
ich bin richtig gestern am 22. von mailand abgereist und seit heute früh
hier; die letzten Tage in Mailand waren ziemlich belebt, es waren zugleich
die letzten der dießjährigen carneval stagione und daher durch eine menge
theaterintriguen und Partheyungen, welche immer sehr volle und stürmi-
sche Theater machten, animirt; die Cerrito welche sich darüber ärgerte, daß
man eine andere tänzerin, kings,1 ebenfalls applaudirte, fiel durch dieses
und andere, theils von ihr, theils ihr gespielte cabalen so sehr in der gunst
des Publikums, daß sie an den 2 letzten Abenden gar nicht mehr auftrat;
mir als einem ihrer partisans und habitués klagte sie all ihr leid und trüb-
sal noch vorgestern; mich amusirte eigentlich das Alles sehr, denn ich kann
mich noch immer nicht bereden dergleichen dinge so wichtig zu finden als
die italiäner es thun, und z.B. die samojloff, welche mich letzthin bey orsini
beinahe grob anfuhr, weil ich donzelli lobte, und sie aus verjährter Zärt-
lichkeit für ihren émeritirten liebhaber Poggi jeden anderen tenor als ihn
detestable findet; letzthin als man die Cerrito nicht so gut empfing als sie,
samojloff, es wünschte, rief sie von der loge ins Perterre hinab: „pubblico di
gorgonzola!“ man kann wirklich kaum mehr in ihre loge gehen, und ich thue
es auch nun höchst selten.
1 richtig giovanna king.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien