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»Hör einmal!« rief ich da, »du bist auch bei uns gewesen?«
»Allerdings«, antwortete er, »und zwar habe ich mich dort einige Monate
aufgehalten, nicht lange nach jener Niederlage, die den Bürgerkrieg
Westenglands gegen den König durch eine beklagenswerte Niedermetzelung
der Aufständischen gewaltsam beendete. In jener Zeit hatte ich dem
ehrwürdigen Vater Johannes Morton, dem Erzbischof von Canterbury,
Kardinal und damals auch noch Lordkanzler von England, viel zu danken,
einem Manne, lieber Peter – dem Morus erzähle ich damit nichts Neues –, den
man nicht weniger wegen seiner Klugheit und Tüchtigkeit als wegen seines
Ansehens verehren muß. Er war von mittlerer Statur, sein Rücken war von
seinem, wenn auch hohen Alter noch nicht gebeugt; seine Miene flößte
Ehrfurcht, nicht Scheu ein. Im Verkehr war er nicht unzugänglich, aber doch
ernst und würdevoll. Er fand ein Vergnügen daran, Bittsteller bisweilen etwas
schroffer anzureden, aber nicht etwa in böser Absicht, sondern um die
Sinnesart und Geistesgegenwart eines jeden auf die Probe zu stellen. Über
letztere Eigenschaft, die ihm ja selber gleichsam angeboren war, freute er sich
stets, wofern keine Unverschämtheit damit verbunden war, und sie schätzte er
als geeignet zu der Führung der Geschäfte. Seine Rede zeugte von feiner
Bildung und Energie; seine Rechtserfahrung war groß, seine Begabung
unvergleichlich, sein Gedächtnis geradezu fabelhaft stark. Diese
ausgezeichneten Naturanlagen vervollkommnete er noch durch Studium und
Übung. Seinen Ratschlägen schenkte der König, wie es schien, während
meiner Anwesenheit das größte Vertrauen, und sie waren eine starke Stütze
für den Staat. Denn in frühester Jugend und gleich von der Schule weg an den
Hof gebracht, war er sein ganzes Leben lang in den wichtigsten Geschäften
tätig gewesen und von mannigfachen Schicksalsstürmen beständig hin und
her geworfen worden, und dadurch hatte er sich unter vielen großen Gefahren
eine Lebensklugheit erworben, die nur schwer wieder verlorengeht, wenn sie
auf diese Weise gewonnen wird.
Als ich eines Tages an seiner Tafel saß, wollte es der Zufall, daß einer von
euren Laienjuristen zugegen war. Dieser begann – ich weiß nicht, wie er
darauf kam –, eifrig jene strenge Justiz zu loben, die man damals in England
Dieben gegenüber übte. Wie er erzählte, wurden allenthalben bisweilen
zwanzig an einem Galgen aufgehängt. Da nur sehr wenige der Todesstrafe
entgingen, wundere er sich, so meinte er, um so mehr, welch widriges
Geschick daran schuld sei, daß sich trotzdem noch überall so viele
herumtrieben. Da sagte ich – vor dem Kardinal wagte ich es nämlich, offen
meine Meinung zu äußern –: »Da brauchst du dich gar nicht zu wundern;
denn diese Bestrafung der Diebe geht über das, was gerecht ist, hinaus und
liegt nicht im Interesse des Staates.
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik