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Die Religion der Utopier
Die religiösen Vorstellungen sind nicht nur in den einzelnen Teilen der Insel,
sondern auch in den einzelnen Städten verschieden, indem die einen die
Sonne, die andern den Mond und wieder andere diesen oder jenen Planeten
als Gottheit anbeten. Einige verehren auch einen beliebigen Menschen, der
vor alters durch Tugend oder Ruhm geglänzt hat, nicht bloß als Gott, sondern
sogar als höchsten Gott. Aber der weit größte und zugleich weitaus klügere
Teil glaubt an nichts von alledem, sondern nur an ein einziges, unerkanntes,
ewiges, unendliches und unerforschliches göttliches Wesen, das über
menschliches Begriffsvermögen erhaben ist und dieses ganze Weltall erfüllt,
und zwar als tätige Kraft, nicht als körperliche Masse; man nennt es Vater.
Ihm schreibt man Ursprung, Wachstum, Fortschritt, Wandel und Ende aller
Dinge zu, und ihm allein erweist man göttliche Ehren. Mit den Anhängern
dieser Lehre stimmen auch alle anderen trotz aller Glaubensunterschiede in
diesem einen Punkte überein, daß sie an ein höchstes Wesen glauben, dem die
Erschaffung der Welt und die Vorsehung zu verdanken ist, und dieses
göttliche Wesen nennen sie alle ohne Unterschied in ihrer heimischen Sprache
Mythras. Aber insofern sind sie verschiedener Ansicht, daß die einzelnen ihn
verschieden auffassen. Dabei glaubt aber jeder, was es auch sein möge, das er
persönlich für das Höchste hält, es sei doch durchaus dasselbe Wesen, dessen
göttliche Macht und Majestät allein nach der übereinstimmenden
Überzeugung aller Völker der Inbegriff aller Dinge ist. Indessen machen sie
sich alle im Laufe der Zeit von der Mannigfaltigkeit abergläubischer
Vorstellungen frei und lassen ihre Anschauungen zu jener einen Religion
verschmelzen, die, wie es scheint, vernünftiger ist als die anderen. Und ohne
Zweifel wären die übrigen religiösen Vorstellungen schon längst nicht mehr
vorhanden, wenn nicht alles Ungemach, das jemandem bei dem Vorhaben,
seine Religion zu wechseln, zufällig widerfährt, von ihm aus Furcht als eine
Schickung des Himmels aufgefaßt würde, gleich als ob die Gottheit, deren
Verehrung aufgegeben werden sollte, den gottlosen und gegen sie gerichteten
Plan ahnden wolle. Nachdem die Utopier jedoch durch uns von Christi
Namen, Lehre, Art und Wundern gehört hatten und ebenso von der
staunenerregenden Standhaftigkeit der zahlreichen Märtyrer, deren freiwillig
vergossenes Blut so zahlreiche Völker weit und breit zu Christus bekehrt hat,
da nahmen auch sie mit einem kaum glaublichen Verlangen seine Lehre an,
sei es nun, weil es Gott ihnen mehr im geheimen eingab, oder sei es, weil das
Christentum, wie es schien, der bei ihnen selbst am weitesten verbreiteten
Lehre am nächsten kam. Gleichwohl möchte ich auch dem Umstand nicht
wenig Gewicht beimessen, daß sie gehört hatten, Christus habe an der
gemeinschaftlichen Lebensweise seiner Jünger Gefallen gefunden und sie sei
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik