Page - 38 - in Utopia
Image of the Page - 38 -
Text of the Page - 38 -
Arbeit anstacheln sollte, würde man da nicht dauernd durch Mord und
Aufruhr in Gefahr schweben, falls niemand auf Grund irgendeines Gesetzes
das, was er erwirbt, als sein Eigentum schützen könnte? Zumal wenn die
Autorität der Behörden und die Achtung vor ihnen geschwunden ist, wie
könnte dann für beides Platz sein bei Menschen, zwischen denen keinerlei
Unterschied besteht? Das kann ich mir nicht einmal vorstellen.«
»Über diese deine Ansichten wundere ich mich gar nicht«, erwiderte
Raphael; »denn von einem solchen Staate hast du entweder gar keine
Anschauung oder nur eine falsche. Wärest du jedoch mit mir in Utopien
gewesen und hättest du dort mit eigenen Augen die Sitten und Einrichtungen
kennengelernt, wie ich es getan habe, der ich über fünf Jahre dort gelebt habe
und gar nicht wieder hätte fortgehen mögen, außer um die Kenntnis von
dieser neuen Welt zu verbreiten, so würdest du entschieden zugeben, du
habest nirgends anderswo ein Volk mit einer guten Verfassung gesehen außer
dort.«
»Und doch«, sagte Peter Ägid, »wirst du mich in der Tat nur schwer davon
überzeugen können, daß es in jener neuen Welt ein Volk mit besserer
Verfassung gibt als in dieser uns bekannten. Haben wir doch hier ebenso
kluge Köpfe, und die Staatswesen sind, meine ich, älter als dort; auch
verdanken unsere Kulturgüter ihre Entstehung zum größten Teile langer
Erfahrung, wobei ich nicht unerwähnt lassen will, daß bei uns manches durch
Zufall entdeckt worden ist, was zu erdenken kein Scharfsinn ausgereicht
hätte.«
»Über das Alter der Staaten würdest du richtiger urteilen können«,
erwiderte jener, »wenn du die Geschichtswerke über jene Welt genau gelesen
hättest. Darf man ihnen glauben, so hat es dort früher Städte gegeben als bei
uns Menschen. Alles aber, was bis heute der Scharfsinn erfunden oder der
Zufall entdeckt hat, konnte hier wie dort vorhanden sein. Im übrigen ist es
meine feste Überzeugung: Mögen wir jenen Leuten auch an Gaben des
Geistes voraussein, an Eifer und Fleiß bleiben wir trotzdem weit hinter ihnen
zurück. Wie nämlich aus ihren Chroniken hervorgeht, hatten sie vor unserer
Landung dort niemals etwas von unserer Welt gehört – sie nennen uns
Ultraäquinoktialen –, außer daß in alten Zeiten, vor nunmehr 1200 Jahren, in
der Nähe der Insel Utopia ein vom Sturm dorthin verschlagenes Schiff durch
Schiffbruch unterging. Dabei warfen die Wellen etliche Römer und Ägypter
an den Strand, die dann nie wieder fortgingen.
Und nun sieh, wie die Utopier in ihrem Fleiße diese in ihrer Art einzige
Gelegenheit ausnutzten! Es gab im ganzen römischen Reiche keine irgendwie
nützliche Kunstfertigkeit, die sie nicht von den gestrandeten Fremdlingen
erlernt oder die sie nicht, im Besitze der Keime ihrer Kenntnis, weiter
38
back to the
book Utopia"
Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik