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jeden Stadt nicht wieder ergänzt werden kann – wie es heißt, ist das seit
Menschengedenken nur zweimal infolge einer heftig wütenden Seuche der
Fall gewesen –, so läßt man die Bürger aus der Kolonie zurückkommen und
füllt mit ihnen die Einwohnerzahl der Städte wieder auf. Die Utopier sehen es
nämlich lieber, daß ihre Kolonien eingehen, als daß die Einwohnerzahl einer
der Städte ihrer Insel zurückgeht.
Doch ich komme auf das Zusammenleben der Bürger zurück. Der Älteste
ist, wie gesagt, das Oberhaupt der Familie. Die Frauen dienen ihren Männern,
die Kinder ihren Eltern und so überhaupt die Jüngeren den Älteren.
Jede Stadt zerfällt in vier gleiche Teile. In der Mitte eines jeden befindet
sich ein Markt für alle Arten von Waren. Dorthin schafft man die
Arbeitserzeugnisse einer jeden Familie in bestimmte Häuser, und die
einzelnen Warengattungen sind gesondert auf Speicher verteilt. Jeder
Familienvater verlangt dort, was er selbst und die Seinen brauchen, und
nimmt alles, was er haben will, mit, und zwar ohne Bezahlung und überhaupt
ohne jede Gegenleistung. Warum sollte man ihm nämlich auch etwas
verweigern? Alles ist ja im Überfluß vorhanden, und man braucht nicht zu
befürchten, daß jemand die Absicht hat, mehr zu verlangen, als er braucht.
Denn warum sollte man annehmen, es werde jemand über seinen Bedarf
hinaus fordern, wenn er sicher ist, daß es ihm niemals an etwas fehlen wird?
Werden doch bei jedem Lebewesen Habsucht und Raubgier durch die Furcht
vor Mangel hervorgerufen und beim Menschen allein außerdem noch durch
Stolz, da er es sich zum Ruhme anrechnet, durch ein Prahlen mit
überflüssigen Dingen die anderen zu übertreffen; für diese Art Fehler ist in
den Einrichtungen der Utopier überhaupt kein Platz.
Mit den erwähnten Märkten sind andere für Lebensmittel verbunden; auf
diese bringt man außer Gemüse, Obst und Brot auch Fische und Fleisch. Die
Tiere sind außerhalb der Stadt auf geeigneten Plätzen, wo man Blut und
Schmutz in fließendem Wasser abwaschen kann, von Sklaven getötet und
gereinigt worden. Die Bürger sollen sich nämlich nicht an das Schlachten von
Tieren gewöhnen, weil man der Ansicht ist, die Gewöhnung an diese
Tätigkeit ertöte allmählich das Mitleid, den edelsten Zug unseres Wesens.
Auch soll nichts Schmutziges und Unreines in die Stadt gebracht werden,
dessen Fäulnis die Luft verpesten und eine Krankheit einschleppen könnte.
Außerdem stehen in jeder Straße, gleichweit voneinander entfernt, einige
geräumige Hallen, von denen jede ihren eigenen Namen hat. Hier wohnen die
Syphogranten, und jeder dieser Hallen sind dreißig Familien zugeteilt, auf
jeder Seite fünfzehn, die dort ihre Mahlzeiten einzunehmen haben. Die
Kücheneinkäufer einer jeden Halle finden sich zu einer bestimmten Stunde
auf dem Markte ein, melden die Zahl der Esser und fordern die Lebensmittel
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik