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wollen, am Feuer aus den Windeln nehmen, sich frei bewegen lassen und mit
ihnen spielen können, damit sie wieder frisch und munter werden. Jede
Mutter stillt ihr Kind selber, soweit das nicht Tod oder Krankheit unmöglich
macht. Tritt dieser Fall ein, so besorgen die Frauen der Syphogranten rasch
eine Amme; und das ist bald geschehen; denn die Frauen, die dazu imstande
sind, bieten sich zu keiner Verrichtung lieber an, da solches Mitleid
allgemeines Lob findet und der Säugling später in der Amme seine Mutter
sieht.
In der Ammenstube sitzen auch alle Kinder unter fünf Jahren; die übrigen
Unmündigen – dazu rechnet man die noch nicht Heiratsfähigen beiderlei
Geschlechts – bedienen entweder bei Tisch oder, soweit sie noch zu jung dazu
sind, stehen sie doch dabei, und zwar in tiefstem Schweigen. Sie essen, was
ihnen die am Tische Sitzenden reichen, und haben keine besondere Tischzeit.
Am ersten Tisch in der Mitte sitzen der Syphogrant und seine Frau. Das ist
der oberste Platz, von dem aus man die gesamte Gesellschaft übersieht; denn
dieser Tisch steht im obersten Teile des Speisesaales quer. An den
Syphogranten und seine Frau schließen sich zwei der Ältesten an; an allen
Tischen sitzt man nämlich zu viert. Falls aber ein Tempel in der betreffenden
Syphograntie liegt, sitzen der Priester und seine Frau so mit dem
Syphogranten zusammen, daß sie den Vorsitz führen. Auf beiden Seiten
folgen dann Jüngere, danach wieder Greise; auf diese Weise sitzen im ganzen
Saale die Gleichaltrigen nebeneinander und doch auch mit anderen
Altersstufen zusammen. Wie es heißt, hat man diese Einrichtung deshalb
getroffen, damit die Würde der Alten und die Ehrfurcht vor ihnen die
Jüngeren von ungehöriger Ausgelassenheit in Rede und Benehmen abhält;
denn nichts, was bei Tische gesprochen oder getan wird, kann den Nachbarn
ringsum entgehen. Die einzelnen Gänge werden nicht vom ersten Platze aus
der Reihe nach gereicht, sondern die besten Gerichte werden immer zuerst
allen Älteren vorgesetzt, deren Plätze besonders kenntlich sind; danach
bedient man die übrigen ohne Unterschied. Jedoch geben die Greise von ihren
Leckerbissen ganz nach Belieben den Umsitzenden ab; um sie nämlich im
ganzen Saale in genügender Menge zu verteilen, sind es nicht genug. Auf
diese Weise bleibt den Älteren die ihnen zukommende Ehre gewahrt, und
trotzdem wird der Allgemeinheit die gleiche Bevorzugung zuteil.
Zu Beginn einer jeden Mittags- und Abendmahlzeit wird ein Text
moralischen Inhalts vorgelesen, der jedoch nur kurz ist, damit man der Sache
nicht überdrüssig wird. Im Anschluß daran führen die Älteren ehrbare
Gespräche, die weder trocken noch ohne Witz sind. Indessen halten sie nicht
etwa während des ganzen Essens lange Reden; sie hören vielmehr auch den
jungen Leuten gern zu. Ja, sie veranlassen sie absichtlich zum Reden, um von
dem Charakter und Geist eines jeden einen Begriff zu bekommen, wenn er
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik