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erreicht haben, so sind sie allerdings hinter den Erfindungen der modernen
Dialektiker weit zurückgeblieben; sie haben nämlich auch nicht eine einzige
der in der »Kleinen Logik« so scharfsinnig ausgedachten Regeln über
Restriktion, Amplifikation und Supposition erfunden, die hierzulande
allenthalben schon die Kinder auswendig lernen. Wie sie ferner keineswegs
den »zweiten Intentionen« nachzuforschen vermochten, so war auch nicht
einer von ihnen imstande, den sogenannten »Menschen überhaupt« zu sehen,
der doch, wie ihr wißt, ein wahrer Koloß und größer als jeder Riese ist und
auf den wir damals auch noch mit den Fingern gezeigt haben.
Dagegen kennen sie ganz genau den Lauf der Gestirne und die Bewegung
der Himmelskreise. Ja, sie haben sich auch Instrumente von verschiedener
Gestalt mit Kunst und Geschick ausgedacht, mit deren Hilfe sie die
Bewegungen und Stellungen der Sonne, des Mondes und ebenso der übrigen
bei ihnen sichtbaren Gestirne aufs genaueste erfaßt haben. Aber von Gunst
und Mißgunst der Planeten und von jenem ganzen Schwindel der
Prophezeiung aus den Sternen lassen sie sich nicht einmal etwas träumen.
Regen, Wind und die übrigen Wetterveränderungen sagen sie aus gewissen
Anzeichen voraus, die sie aus langer Erfahrung kennen. Über die Ursachen all
dieser Erscheinungen aber, über Ebbe und Flut sowie über den Salzgehalt des
Meeres und schließlich über den Ursprung und die Natur des Himmels und
der Erde lehren sie zum Teil dasselbe wie unsere alten Philosophen. Wie diese
aber schon untereinander verschiedener Meinung sind, so stimmen auch die
Utopier mit ihren neuen Erklärungen für die Naturerscheinungen mit ihnen
allen zum Teil nicht überein, sind aber auch untereinander nicht in jeder
Beziehung derselben Ansicht.
In der Moralphilosophie behandeln die Utopier dieselben Fragen wie wir.
Sie stellen Erörterungen an über die Güter des Geistes und des Körpers sowie
über die äußeren Güter, ferner ob diese alle oder nur die Gaben des Geistes
als Güter bezeichnet werden dürfen; auch untersuchen sie das Wesen der
Tugend und der Lust. Aber die erste und wichtigste aller Streitfragen ist die,
worin wohl die Glückseligkeit des Menschen besteht, ob in einem Dinge oder
in mehreren. In diesem Punkte aber neigen sie, wie es scheint, mehr als billig
zu der Ansicht derer, die für das Vergnügen eintreten, worin sie entweder das
menschliche Glück überhaupt oder doch wenigstens seinen wesentlichsten
Bestandteil erblicken. Und worüber man sich noch mehr wundern muß, sie
stützen ihre so sinnenfreudige Ansicht auch mit Beweisgründen, die sie ihrer
Religion entnehmen, einer ernsten und strengen, ja fast düsteren und harten
Lehre. Wenn sie nämlich über die Glückseligkeit verhandeln, so verbinden sie
stets gewisse Grundsätze ihrer Religion mit der Philosophie, die mit
Vernunftgründen arbeitet; denn ohne diese Grundsätze ist die Vernunft nach
Ansicht der Utopier zu ungenügend und zu schwach, um für sich allein die
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book Utopia"
Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik