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Wie es nämlich in den Augen der Utopier einerseits eine Nachlässigkeit und
Trägheit ist, sich seine körperliche Schönheit nicht zu erhalten, so ist es
anderseits eine Schande und Unverschämtheit, die Schminke zu Hilfe zu
nehmen. Wissen sie doch aus persönlicher Erfahrung, daß eine Frau die
Achtung und Liebe ihres Mannes durch keinerlei Aufputz des Äußeren in
gleicher Weise wie durch Sittsamkeit und Ehrerbietung gewinnt. Wenn sich
nämlich auch manche Männer durch bloße Schönheit fangen lassen, so ist
doch keiner ohne Tugend und Gehorsam auf die Dauer festzuhalten.
Die Utopier schrecken nicht bloß durch Strafen von Schandtaten ab,
sondern geben auch durch die Aussicht auf Ehrungen einen Anreiz zur
Tugendhaftigkeit. Zu diesem Zweck errichten sie berühmten und um den
Staat besonders verdienten Männern auf dem Markte Standbilder zur
Erinnerung an ihre Taten; zugleich aber soll der Ruhm der Vorfahren ihre
Nachkommen mit Nachdruck zur Tugend anspornen.
Wer sich ein Amt zu erschleichen sucht, geht der Aussicht verlustig,
überhaupt ein Amt zu erlangen.
Die Utopier verkehren in liebevoller Weise miteinander, und auch die
obrigkeitlichen Personen sind weder anmaßend noch schroff. Sie heißen
Väter, und als solche zeigen sie sich auch. Aus freien Stücken erweist man
ihnen die gebührende Ehre, und man läßt sich nicht dazu zwingen. Nicht
einmal den Bürgermeister macht eine besondere Tracht oder ein Diadem
kenntlich, sondern nur ein Büschel Ähren, das er trägt, wie das Kennzeichen
des Oberpriesters eine Wachskerze ist, die ihm vorangetragen wird.
Gesetze haben die Utopier in ganz geringer Zahl; für Leute von solcher
Disziplin genügen ja auch überaus wenige. Ja, das mißbilligen sie vor allem
anderen bei fremden Völkern, daß dort nicht einmal eine Flut von
Gesetzbüchern und Kommentaren ausreicht. Ihnen selbst aber kommt es
höchst unbillig vor, wenn sich jemand durch Gesetze verpflichten soll, die
entweder zu zahlreich sind, als daß er sie durchlesen könnte, oder zu dunkel,
als daß sie jedermann verständlich wären. Ferner wollen sie von Advokaten
überhaupt nichts wissen, weil diese die Prozesse so gerissen führen und über
die Gesetze so spitzfindig disputieren. Nach Ansicht der Utopier ist es
nämlich von Vorteil, wenn jeder seine Sache selber vertritt und das, was er
seinem Anwalt erzählen würde, dem Richter mitteilt; auf diese Weise werde
es, so sagen sie, weniger Winkelzüge geben und die Wahrheit komme eher
ans Licht. Wenn nämlich jemand spricht, den kein Anwalt Falschheit gelehrt
hat, so wägt der Richter das einzelne, was er vorbringt, geschickt und klug ab
und steht Leuten von harmloserem Charakter gegen die Verleumdungen
verschlagener Gegner bei. Das läßt sich bei anderen Völkern wegen der
Riesenmenge höchst verwickelter Gesetze nur schwer durchführen, bei den
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book Utopia"
Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik