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Utopiern dagegen ist jeder einzelne gesetzeskundig. Einmal nämlich ist die
Zahl ihrer Gesetze, wie gesagt, sehr gering, und sodann halten sie die am
wenigsten gekünstelte Auslegung für die gegebenste. Denn wenn alle
Gesetze, so sagen sie, nur dazu erlassen werden, jedermann an seine Pflicht
zu erinnern, so wird dieser Zweck durch eine feinere Auslegung, die nur
wenige verstehen, auch nur bei sehr wenigen erreicht; dagegen ist eine
einfachere und näherliegende Erklärung der Gesetze einem jeden
verständlich. Was aber nun die große Masse anlangt, die an Zahl stärkste
Klasse, die der Ermahnung am meisten bedarf, was macht es der aus, ob man
überhaupt kein Gesetz gibt oder ob man ein schon bestehendes Gesetz in
einem Sinne auslegt, den jemand nur mit viel Geist und in langer Erörterung
herausfinden kann? Damit kann sich weder der hausbackene Verstand des
gemeinen Mannes befassen, noch läßt ihm sein Leben, das von der
Beschaffung des Unterhaltes ausgefüllt ist, die Zeit dazu.
Diese Vorzüge der Utopier veranlassen ihre Nachbarn, obwohl sie frei und
selbständig sind – viele von ihnen sind durch die Utopier schon vor alters von
der Tyrannei befreit worden –, sich von ihnen ihre obrigkeitlichen Personen,
teils auf je ein Jahr, teils auf fünf Jahre, zu erbitten. Nach Ablauf ihrer
Amtszeit geleiten die Fremden sie mit Ehre und Lob nach Utopien zurück und
nehmen wieder neue Leute in die Heimat mit. Und diese Völker sorgen in der
Tat aufs beste für das Wohlergehen ihres Staates. Da nämlich dessen Heil und
Verderben von der Führung der Beamten abhängt, hätten sie keine klügere
Wahl treffen können. Denn einerseits sind diese Fremden durch keinerlei
Bestechung vom Wege der Tugend abzubringen, da sie ja bei ihrer bald
wieder erfolgenden Heimkehr nicht lange Nutzen von dem Gelde haben
würden; anderseits sind ihnen die fremden Bürger unbekannt, und so lassen
sie sich nicht von unangebrachter Zuneigung oder Abneigung gegen irgend
jemand leiten. Wo aber diese beiden Übel, Parteilichkeit und Geldgier, die
Urteile beeinflussen, da ertöten sie sogleich alle Gerechtigkeit, den
Lebensnerv des staatlichen Lebens. Diese Völker, die sich von den Utopiern
ihre Obrigkeiten erbitten, werden von ihnen Genossen genannt, die übrigen
aber, denen sie Wohltaten erwiesen haben, Freunde.
Bündnisse, wie sie die übrigen Völker so oft untereinander abschließen,
brechen und wieder erneuern, gehen die Utopier mit keinem Volke ein. Wozu
denn ein Bündnis? sagen sie. Genügen nicht die natürlichen Bande der
Menschen untereinander? Wer diese nicht achtet, sollte der sich etwa durch
Worte gebunden fühlen? Zu dieser Ansicht kommen die Utopier wohl
besonders dadurch, daß in jenen Ländern Bündnisse und Verträge der Fürsten
in der Regel zu wenig gewissenhaft gehalten werden. Und in der Tat ist in
Europa, und zwar vor allem in den Teilen, wo christlicher Glaube und
christliche Religion herrschen, die Majestät der Verträge überall heilig und
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik