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bei den Zusammenkünften der echten Christen noch heutigestags üblich. Von
welcher Bedeutung das nun auch gewesen sein mag, jedenfalls traten nicht
wenige zu unserem Glauben über und ließen sich mit dem geweihten Wasser
taufen. Leider war unter uns vieren – nur so viele waren wir noch, da zwei
gestorben waren – kein Priester. Infolgedessen müssen die Utopier, wenn sie
auch im übrigen eingeweiht sind, dennoch bis heute auf den Genuß der
Sakramente verzichten, da diese bei uns nur die Priester spenden dürfen.
Doch sind sie sich über deren Wert und Bedeutung klar und haben keinen
sehnlicheren Wunsch; ja, sie erörtern bereits lebhaft die Frage, ob nicht auch
ohne Auftrag des Papstes der Christenheit einer aus ihren Reihen gewählt und
zum Priester ernannt werden kann. Und es schien so, als hätten sie die
Absicht, einen zu wählen, aber bei meiner Abreise war das noch nicht
geschehen.
Auch die, die vom Christentum nichts wissen wollen, machen trotzdem
niemanden abspenstig und lassen jeden, der dazu übertritt, unbehelligt. Nur
einer aus unserer Gemeinschaft wurde während meiner Anwesenheit
verhaftet. Als Neugetaufter redete er, obgleich wir ihm davon abrieten,
öffentlich über die Verehrung Christi mit mehr Eifer als Klugheit. Dabei
geriet er allmählich so in Hitze, daß er sich bald nicht mehr damit begnügte,
das, was nur uns heilig ist, über alles andere zu stellen. Er verurteilte vielmehr
ohne weiteres alle anderen Lehren, nannte sie unheilig und bezeichnete ihre
Anhänger als ruchlose Gotteslästerer, die es verdienten, in die Hölle zu
kommen. Wenn einer lange öffentlich so redet, nehmen ihn die Utopier fest
und stellen ihn vor Gericht, aber nicht wegen Religionsverletzung, sondern
wegen Volksverhetzung, und, wenn er für schuldig befunden wird, bestrafen
sie ihn mit Verbannung; denn unter ihre ältesten Bestimmungen rechnen sie
die, daß niemand von seiner Religion Schaden haben darf. Utopus hatte
nämlich gleich anfangs erfahren, daß die Eingeborenen vor seiner Ankunft
beständig Religionskämpfe miteinander geführt hatten; er hatte auch
beobachtet, daß bei der allgemeinen Uneinigkeit die Sekten einzeln für das
Vaterland kämpften und daß ihm dieser Umstand Gelegenheit bot, sie
insgesamt zu besiegen. Als er dann den Sieg errungen hatte, setzte er
Religionsfreiheit für jedermann fest und bestimmte außerdem, wenn jemand
auch andere zu seinem Glauben bekehren wolle, so dürfe er es nur in der
Weise betreiben, daß er seine Ansicht ruhig und bescheiden auf
Vernunftgründen aufbaue, die anderen aber nicht mit bitteren Worten
zerpflücke. Gelinge es ihm nicht, durch Zureden zu überzeugen, so solle er
keinerlei Gewalt anwenden und sich nicht zu Schimpfworten hinreißen
lassen. Geht aber jemand in dieser Sache zu ungestüm vor, so bestrafen ihn
die Utopier mit Verbannung oder Sklavendienst. Diese Bestimmung traf
Utopus nicht bloß im Interesse des Friedens, den, wie er sah, beständiger
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik