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dem Tode eher noch zu- als abnehmen. Die Utopier glauben demnach, daß die
Toten unter den Lebenden weilen als Ohren- und Augenzeugen ihrer Worte
und Taten, und infolgedessen gehen sie mit größerer Zuversicht an ihre
Geschäfte, gleichsam im Vertrauen auf solchen Schutz; auch lassen sie sich
durch den Glauben an die Anwesenheit ihrer Vorfahren von geheimer
Schandtat abschrecken.
Auf Weissagungen und die sonstigen Prophezeiungen eines hohlen
Aberglaubens, die andere Völker gewissenhaft beachten, legen die Utopier
gar keinen Wert, ja sie machen sich sogar darüber lustig. Wunder dagegen,
soweit sie ohne jede natürliche Veranlassung geschehen, verehren sie als
Taten und Zeugnisse der anwesenden Gottheit. Solche Wunder kommen in
Utopien, wie es heißt, häufig vor, und in wichtigen und zweifelhaften Fragen
flehen sie bisweilen darum mit großer Zuversicht und unter Veranstaltung
eines großen Betfestes und erwirken auch ein Wunder.
Für eine Gott wohlgefällige Verehrung halten die Utopier die Betrachtung
der Natur sowie das Lob, das man Gott als ihrem Schöpfer spendet. Doch gibt
es auch Leute, und zwar keineswegs wenige, die unter Berufung auf ihren
Glauben von den Wissenschaften nichts wissen wollen, sich um keinerlei
Erkenntnis der Natur bemühen und Muße überhaupt nicht kennen: nur durch
Betätigung und gute Dienste, die man den Mitmenschen erweist, erwirbt man
sich nach ihrer Meinung Anspruch auf die Glückseligkeit nach dem Tode.
Daher widmen sich die einen der Krankenpflege, die anderen bessern Wege
aus, reinigen Gräben, bringen Brücken in Ordnung, stechen Rasen aus,
schaufeln Sand und graben Steine aus, fällen und zersägen Bäume, fahren auf
Zweigespannen Holz, Feldfrüchte und andere Dinge in die Städte und
benehmen sich nicht nur in der Tätigkeit für die Allgemeinheit, sondern auch
in der für Privatleute wie Diener und sind noch arbeitsamer als Sklaven. Denn
jede mühsame, schwierige und schmutzige Arbeit, die es irgendwo gibt und
von der Anstrengung, Widerwille und Verzweiflung die meisten
zurückschrecken, nehmen sie willig und fröhlich ganz auf sich. Den anderen
verschaffen sie Muße, sie selber aber arbeiten und plagen sich ohne Unterlaß,
ohne jedoch Dank dafür zu beanspruchen; auch tadeln sie die Lebensweise
anderer nicht, um ihre eigene dafür zu rühmen. Je mehr sich die Leute als
Sklaven zeigen, desto größere Ehre erweist ihnen jedermann. Unter ihnen gibt
es nun zwei Sekten. Die eine ist die der Ledigen. Diese enthalten sich völlig
des Geschlechtsverkehrs; auch essen sie kein Fleisch, einige sogar, ohne mit
irgendeinem Tier eine Ausnahme zu machen. Alle Freuden dieses Lebens
verwerfen sie als schädlich, und in der Hoffnung auf einen baldigen Tod
trachten sie leidenschaftlich danach, durch Nachtwachen und mühselige
Arbeit nur die Freuden des künftigen Lebens zu erlangen. Die Anhänger der
anderen Sekte sind nicht weniger auf Arbeit erpicht, ziehen es aber dabei vor,
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik